Obwohl die Quantenmechanik eine durch Experimente gut untermauerte Theorie darstellt, gilt sie nur für einen Teil des Universums: Das Verhalten von größeren Objekten kann sie nicht befriedigend beschreiben. Nun haben Schweizer Physiker ein Gedankenexperiment vorgestellt, das zu unerwarteten Widersprüchen führt. Der Befund wirft grundsätzliche Fragen auf – und polarisiert auch die Fachwelt.

Seit fast 100 Jahren wird die Quantenmechanik stets aufs Neue mit hoher Präzision experimentell bestätigt – und doch sind die Physiker nicht restlos glücklich mit ihr. Denn die Quantenmechanik beschreibt zwar sehr genau das Geschehen auf der mikroskopischen Ebene. Doch bei größeren Objekten stößt sie an ihre Grenzen – insbesondere wenn es sich um Objekte handelt, bei denen die Gravitationskraft eine Rolle spielt. So lässt sich etwa das Verhalten von Planeten mit der Quantenmechanik nicht beschreiben. Das ist nach wie vor die Domäne der allgemeinen Relativitätstheorie, die wiederum die Vorgänge im Kleinen nicht richtig zu beschreiben vermag. Viele Physiker träumen denn auch davon, die Quantenmechanik mit der Relativitätstheorie zu einem schlüssigen Bild unserer Welt zu verknüpfen.

Die Grenzen quantenphysikalischer Experimente

Doch wie lassen sich zwei Theorien miteinander verbinden, die zwar beide in ihren Domänen die physikalischen Vorgänge sehr treffend beschreiben, aber eben doch sehr unterschiedlich sind? Ein möglicher Weg ist, quantenphysikalische Experimente mit immer größeren Objekten durchzuführen. Die Hoffnung dabei: Irgendwann tauchen Unstimmigkeiten auf, die mögliche Lösungswege aufzeigen. Doch den Physikern sind dabei enge Grenzen gesetzt. Das berühmte Doppelspaltexperiment etwa, mit dem gezeigt werden kann, dass feste Partikel sich gleichzeitig wie Wellen verhalten, lässt sich mit Alltagsgegenständen nicht durchführen.

Mit Gedankenexperimenten hingegen lassen sich die Grenzen zur makroskopischen Welt überwinden. Genau das haben Renato Renner, Professor für theoretische Physik an der Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich), und seine ehemalige Doktorandin Daniela Frauchiger in einer Publikation gemacht, die nun im Fachjournal "Nature Communications" vorgestellt wurde. Salopp gesagt betrachten die beiden in ihrem Gedankenexperiment einen hypothetischen Physiker, der ein quantenmechanisches Objekt untersucht, und berechnen dann mit Hilfe der Quantenmechanik, was der Physiker feststellen wird. Gemäß unserem heute gültigen Weltbild sollte diese indirekte Betrachtung zum gleichen Resultat führen wie die direkte Beobachtung. Doch die Berechnungen der beiden zeigen, dass dies gerade nicht der Fall ist: Die Voraussage, was der Physiker beobachten wird, ist gerade das Gegenteil dessen, was man direkt messen würde – eine paradoxe Situation.

Problem, das sich nicht einfach knacken lässt

Obwohl das Gedankenexperiment erst jetzt offiziell publiziert wird, hat es in der Fachwelt bereits für Gesprächsstoff gesorgt. Da sich der Publikationsprozess immer wieder verzögerte, gibt es inzwischen bereits verschiedene andere Arbeiten, die sich mit den Befunden befassen. Die übliche erste Reaktion in der Fachwelt sei meistens, die Berechnungen anzuzweifeln, berichtet Renner. Doch bisher ist es niemandem gelungen, die Kalkulationen zu falsifizieren. Ein Gutachter räumte ein, er hätte inzwischen fünf Mal erfolglos versucht, einen Fehler in den Berechnungen zu finden. Andere Kollegen wiederum präsentierten konkrete Erklärungen, wie das Paradox gelöst werden kann. Doch bei näherem Hinsehen zeigte sich stets, dass es sich um Ad-hoc-Lösungen handelt, mit denen sich das Problem nicht aus der Welt schaffen lässt.

Bemerkenswert findet Renner, dass das Thema offenbar polarisiert. Einige Kollegen hätten auf seine Ergebnisse sehr emotional reagiert, stellt er erstaunt fest. Das liegt wohl daran, dass die zwei naheliegenden Schlussfolgerungen aus Renners und Frauchigers Befunden gleichermassen irritierend sind. Die eine Erklärung ist, dass die Quantenmechanik offensichtlich nicht wie bisher angenommen universell anwendbar ist und demnach nicht auf größere Objekte angewendet werden kann. Doch wie kann es sein, dass eine Theorie, die experimentell immer wieder so deutlich bestätigt wurde, inkonsistent ist? Die andere Erklärung lautet, dass es offenbar auch in der Physik keine klaren Fakten gibt und dass es neben dem, was wir für wahr halten, auch noch andere Möglichkeiten gibt.

Lösungen von unerwarteter Seite

Mit beiden Interpretationen tut sich Renner schwer. Er ist vielmehr überzeugt, dass sich das Paradox auf andere Weise lösen wird: "Wenn man in der Geschichte zurückblickt, dann kam die Lösung in solchen Momenten oft von unerwarteter Seite", erklärt er. So basiert beispielsweise die allgemeine Relativitätstheorie, mit der Widersprüche in der Newtonschen Physik aufgelöst werden konnten, auf der Einsicht, dass das damals noch gängige Konzept der Zeit falsch war. "Unsere Aufgabe besteht nun darin zu prüfen, ob wir bei unserem Gedankenexperiment nicht Annahmen getroffen haben, die wir in dieser Form nicht hätten treffen dürfen", erklärt Renner.

"Wer weiß, vielleicht müssen wir sogar unsere Vorstellung von Raum und Zeit nochmals revidieren." Für Renner wäre das durchaus eine reizvolle Option: "Nur wenn wir bisherige Theorien fundamental überdenken, gelangen wir zu tieferen Einsichten, wie die Natur wirklich funktioniert." (red, 23.9.2018)