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SPÖ-Chef Christian Kern musste sich vergangene Woche zwangsläufig eine Exit-Strategie überlegen. Ob diese zum gewünschten Ergebnis führen wird, ist vorerst eher zweifelhaft.

Foto: REUTERS/Heinz-Peter Bader

Der Spitzenkandidatenprozess war 2014 ein kühner Schachzug des Europäischen Parlaments in seiner Dauerrivalität mit dem Europäischen Rat. Alle großen europäischen Parteien nominierten Spitzenkandidaten und kamen überein, den Kandidaten der erfolgreichsten Gruppierung – und ausschließlich diesen – zum Kommissionspräsidenten zu wählen. Dies widersprach dem Wortlaut des Artikels 17/7 des EU-Vertrags, der dem Europäischen Rat das Recht einräumt, dem Parlament einen Kandidaten für dieses Amt vorzuschlagen.

Nach einigem Hin und Her und gegen die Stimmen von David Cameron und Viktor Orbán unterwarf sich der Europäische Rat schließlich diesem Diktat und nominierte den Spitzenkandidaten der EVP, Jean-Claude Juncker.

Das Europäische Parlament feierte dies als Durchbruch für parlamentarische Demokratie auf europäischer Ebene. Das Parlament hat zwar in den letzten Jahrzehnten weitreichende Gesetzgebungsbefugnisse erlangt, der Wahlprozess bildet jedoch eine Schwachstelle. Denn dieser besteht im Grunde aus 28 parallelen nationale Wahlen, deren Ergebnis hauptsächlich von innenpolitischen Faktoren bestimmt wird. Zwischen der Leistung der Abgeordneten und dem Wählervotum besteht kaum Rückkoppelung, da nur wenige Abgeordnete auf nationaler Ebene bekannt sind und die Kandidatenlisten von den nationalen Parteien nach innenpolitischen Kriterien erstellt werden. Und da die EU-Institutionen seit Jahrzehnten von derselben Koalition aus Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien (mit liberalen Einsprengseln) dominiert werden, fehlte auch bisher die Möglichkeit, einen Machtwechsel herbeizuführen. Kein Wunder, dass die Wahlbeteiligung von Wahl zur Wahl zurückging und weit unter dem Niveau nationaler Wahlen liegt.

Vom Wähler unbemerkt

Diese Missstände sollten durch die Spitzenkandidatenprozedur abgebaut werden. Nun würde der Wähler über den künftigen Kommissionspräsidenten mitentscheiden und damit Einfluss auf die zukünftige Gestaltung der EU-Politik gewinnen. Von dieser neuen Bedeutung der Wahlen versprach sich das Parlament die Mobilisierung zusätzlicher Wähler. Diese Hoffnung ging allerdings nicht in Erfüllung. Trotz einiger TV-Debatten zwischen den Spitzenkandidaten verblieb die Wahlbeteiligung auf geringem Niveau (42 Prozent) und Umfragen zufolge haben die meisten Wähler das neue Verfahren gar nicht wahrgenommen.

Das Parlament ist dennoch entschlossen, die Prozedur 2019 zu wiederholen, denn nur so kann daraus eine ständige Regel werden. Kommissionspräsident Juncker hat sich ebenfalls dafür ausgesprochen. Die Staats-und Regierungschefs haben dagegen bei einer Sitzung im Februar jede "Automatik" in der Nominierung des nächsten Kommissionspräsidenten abgelehnt.

Derzeit bringen sich die ersten Bewerber für die Spitzenkandidatenpositionen in Stellung. Für die EVP ist ihr Fraktionschef Manfred Weber in den Ring gestiegen. Für die Sozialdemokraten hat sich neben Christian Kern der slowakische Kommissär Maros Sefcovic gemeldet. Auch die Grünen werden wieder einen Spitzenkandidaten aufstellen, wobei ihr Fraktionschef Reinhard Bütikofer interessanterweise erklärt hat, dass zwar ein Spitzenkandidat, aber nicht zwangsläufig jener der größten Fraktion zum Kommissionspräsidenten gekürt werden soll. Die Liberalen tun sich schwer, da sie Emmanuel Macrons En-Marche-Bewegung an Bord bringen wollen, die das Spitzenkandidatenkonzept ablehnt.

Rechter Erfolg erwartet

Insgesamt stehen die Chancen, dass das Spitzenkandidatenkonzept 2019 wieder erfolgreich umgesetzt werden kann, nicht allzu gut. Zwar wird die EVP mit großer Wahrscheinlichkeit trotz einiger Mandatsverluste wieder die größte Fraktion stellen, da jedoch die Sozialdemokraten voraussichtlich stark verlieren werden, dürften diese beiden Parteien zusammen ihre absolute Mehrheit erstmals verlieren. Der EVP-Kandidat müsste daher auch die Unterstützung anderer Fraktionen finden, was aus heutiger Sicht eher zweifelhaft ist. Der zu erwartende Erfolg rechtspopulistischer Parteien könnte die Sache zusätzlich komplizieren.

Wahrscheinlicher ist daher, dass die Besetzung der EU-Spitzenfunktionen (neben dem Kommissionspräsidenten geht es auch um die Präsidenten des Europäischen Rats und des Parlaments, den Hohen Vertreter und – 2019 ausnahmsweise – auch den künftigen Chef der Europäischen Zentralbank) wieder durch informelle Absprachen zwischen den wichtigsten Regierungen und Parteiformationen vorbereitet wird, wobei ein Ausgleich zwischen rechts und links, Nord, Süd, Ost und West sowie Groß und Klein angestrebt wird. Da auch eine geschwächte Sozialdemokratie an diesem Spiel teilnehmen wird, hat Christian Kern gewisse, aber nur schwer zu bewertende Chancen, eine dieser Funktionen zu erlangen.

Viel Macht, ...

Für das Europäische Parlament würde das Scheitern des Spitzenkandidatenkonzepts einen Rückschlag bedeuten. Allerdings ist es fraglich, ob dieses Konzept tatsächlich einen sinnvollen Ansatz zur Stärkung der europäischen Demokratie darstellt. Denn das Problem des Parlaments besteht darin, dass die Mitgliedstaaten zwar seine Kompetenzen massiv erweitert haben, die nationalen Parteien, für die die Zusammensetzung der nächsten nationalen Regierung absolute Priorität hat, sich aber einer Europäisierung des Wahlprozesses konsequent verweigern. Um die europäische Dimension des Prozesses zu stärken, müssten die nationalen Parteien den Spitzenkandidaten und ihren Programmen in der Kampagne Vorrang einräumen und auf innenpolitische Profilierung weitgehend verzichten – und dafür gibt es keine Anzeichen.

Es gibt einen wesentlich sinnvolleren Schritt zur Ermöglichung eines echten EU-weiten Wahlkampfs, nämlich die Einführung transnationaler Listen, aber dieser wird von denselben nationalen Parteien seit Jahren systematisch und erfolgreich bekämpft.

... wenig Verantwortung

Die Ergebnisse sind ein Parlament mit viel Macht, aber wenig Verantwortung und Wähler, denen schwer zu vermitteln ist, worum es bei diesen Wahlen eigentlich geht. Paradoxerweise bietet 2019 die Mobilisierung rechtspopulistischer Parteien eine Chance für eine transnationale Debatte über die Zukunft der EU. Orbán, Salvini, Le Pen haben alle die Wahlen im Mai zu einer Schicksalsstunde der europäischen Geschichte ausgerufen, in der die Macht der alten Eliten gebrochen und ein neues, auf der Zusammenarbeit souveräner Nationen beruhendes Europa eingeläutet werden soll. Zwar sind die realen Aussichten rechtspopulistischer Parteien, im Europäischen Parlament die Mehrheit zu erringen, äußerst gering. Doch könnten sie, wenn sie viele Sitze gewinnen und ihre derzeitige Zersplitterung überwinden, das Funktionieren des Parlaments beträchtlich beeinflussen.

Es ist zu erwarten, dass diese Mobilisierung der nationalen "Internationalen" eine ebenso energische Gegenbewegung auslösen wird. Die Polarisierung zwischen denen, die die neuen Herausforderungen durch gemeinsames europäisches Handeln lösen wollen, und jenen, die das Heil in der Wiederherstellung nationaler Souveränität suchen, wird die Dynamik des Wahlkampfs bestimmen. Das eigentliche Match im Mai 2019 dürfte daher wohl eher nicht Kern gegen Weber heißen, sondern Salvini gegen Macron. (Stefan Lehne, 24.9.2018)