"Wer absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muß nicht nur die eigene, muß auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt. Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns gleich ein, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achtet. Darum gibt sie jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern und im freien Wettbewerb um die Gemüter der Menschen sich geltend zu machen. […] Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie eine Opposition – die Minorität – ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzipe der Proportionalität schützt", schrieb der berühmte Rechtstheoretiker Hans Kelsen in der zweiten Auflage seiner Abhandlung "Vom Wesen und Wert der Demokratie" (1929).

Was macht Demokratien attraktiv?

Kelsen – er war maßgeblich an der Schaffung der österreichischen Bundesverfassung von 1920 beteiligt – beschreibt hier eingehend, was Demokratien so attraktiv und normativ bedeutsam macht. Sie garantieren jenen Sicherheit, die nicht die Glaubensannahmen, weltanschaulichen Gewissheiten und politischen Überzeugungen der Mehrheit teilen. In demokratischen Verfassungsstaaten stehen nicht die Rechte und Freiheiten von Menschen auf dem Spiel, nur weil diese mit der "herrschenden Meinung" nicht konform gehen.

Doch wie steht es mit Kelsens Behauptung, dass diese weltanschaulichen Freiräume nur dann zu haben sind, wenn sich die Gesellschaft zum ethischen Relativismus bekennt? Warum hat Kelsen den Relativismus bejaht, also die Auffassung, dass beliebige Werthaltungen als gleichberechtigt zu gelten haben und keine begründeterweise zurückgewiesen werden kann?

Hans Kelsen, Büste von Ferdinand Welz in der Universität Wien.
Foto: Matthias Cremer

Es gibt keine moralische Wahrheit

Für Kelsen sind moralische Urteile nur Ausdruck subjektiver persönlicher Haltungen. Jeder Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit von Werten und Normen verkörpert für ihn Dogmatismus. Behauptungen, die moralische Wahrheit zu kennen, setzt Kelsen mit fundamentalistischen religiösen Überzeugungen gleich. Deren Ansprüche auf absolute Gültigkeit setzen nach Kelsen voraus, dass es die eine unverbrüchliche religiöse Wahrheit, garantiert durch Gottes Existenz und seine unmissverständliche Willensäußerung, gibt. Für einen in der Tradition der Aufklärung und ihres Prinzips religiöser Neutralität und Toleranz stehenden Denker wie Kelsen sind solche Annahmen selbstredend unhaltbar. Moralische Auffassungen und Urteile sind daher, wie Kelsen betont, von Religion zu Religion, von Person zu Person verschieden und somit subjektiv und relativ.

Kelsens Bestreben war es, das Recht von fundamentalistischer Gewissheitsmetaphysik und politisch-weltanschaulichen Machtansprüchen, die sich als A-priori-Einsichten in Wahrheiten tarnen, freizuhalten. In seiner berechtigten Kritik solcher Tendenzen ging er jedoch so weit, die Möglichkeit der intersubjektiven Begründbarkeit von Normen und moralischen Grundsätzen infrage zu stellen. Der für Demokratien konstitutive weltanschauliche Pluralismus verleitete Kelsen zur Akzeptanz eines umfassenden Relativismus. Ist diese Konsequenz unumgänglich?

Norm A oder Norm non-A?

Der erkenntnistheoretische Relativismus besagt, dass prinzipiell nicht entscheidbar ist, ob A oder non-A wahr ist. Der ethische Relativismus besagt, dass prinzipiell nicht entscheidbar ist, ob Norm A oder Norm non-A richtig ist und sein soll. Doch wenn der ethische Relativismus gilt, wie kann man dann normative Strukturen schaffen und begründen, die Menschen ein gesichertes Verfolgen ihrer eigenen Lebenskonzeption ermöglichen?

Es mag gute Gründe dafür geben, die Frage, ob A oder non-A wahr ist, nicht immer unmittelbar und sofort zu beantworten. Vielleicht liegt nicht genügend empirische Evidenz vor, um zu entscheiden, ob A oder non-A wahr ist. Vielleicht handelt es sich um komplexe Sachverhalte, die zu beurteilen mehr an Information, Wissen und Nachdenken benötigt, als im Moment vorliegt. Doch das Verschieben der Antwort, ob A oder non-A wahr ist, bedeutet nicht, dass grundsätzlich nicht geklärt werden kann, ob A oder non-A der Fall ist.

Umgelegt auf Wertfragen bedeutet dies: Wenn nicht unmittelbar klar ist, ob Norm A oder Norm non-A begründet gelten soll, so bedeutet dies nicht, dass es keinerlei Möglichkeit gibt, über sorgfältiges Abwägen von Argumenten und Gründen zu einer Entscheidung zu kommen, ob Norm A oder non-A gerechtfertigt ist und gelten soll.

Die intersubjektive Gültigkeit von Normen

Die Ablehnung von Fundamentalismus in Wahrheits- und Wertfragen verpflichtet uns nicht auf den Subjektivismus und Relativismus. Moralische Normen und Werte als richtig oder falsch zu bewerten setzt weder einen Werteabsolutismus noch Werteplatonismus voraus. Der Nachweis intersubjektiver Gültigkeit von Normen kann an argumentative Verfahren gebunden sein, in denen sich bestimmte moralische Grundsätze als vernünftigerweise zustimmungsfähig erweisen. Normen und moralische Prinzipien können als gut begründet gelten, wenn deren Zurückweisung zu Inkohärenzen und Widersprüchen führt und recht besehen keinen Sinn ergibt.

Wie kann man sich solche Inkohärenzen und Widersprüche vorstellen? Ein Blick auf Kelsens eigenes Leben und Schicksal liefert ein anschauliches Beispiel, dass Subjektivismus und Relativismus mit unseren wohlbegründeten Urteilen in Konflikt geraten. Kelsen, der wegen politischer Anfeindungen Österreich 1930 verlassen hatte und eine Professur in Köln annahm, verlor am 7. April 1933 ebendiese Professur. Grund war das von den Nationalsozialisten verabschiedete "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums", das die Entlassung jüdischer Beamter aus dem Staatsdienst anordnete und damit den Universitätslaufbahnen jüdischer Professoren und Dozenten ein jähes Ende setzte. Und in der Folge zwang die Verfolgung durch den Nationalsozialismus Kelsen zur Emigration in die USA.

Wo verläuft die Grenze zwischen Relativismus und Toleranz?

Was aber kann man aus der Perspektive von Subjektivismus und Relativismus zu solchen politischen Entwicklungen sagen? Kann der Relativist hier mehr sagen, als dass diese Entwicklungen eben Ausdruck einer bestimmten Werthaltung sind, und zwar einer beliebigen unter möglichen anderen? Einer Werthaltung, über die man lediglich sagen kann, dass sie einem selbst nicht gefällt?

Kelsens Festschreibung von Demokratien auf den Relativismus verträgt sich schlecht mit seiner These, dass Minoritäten zu schützen sind. Der Relativismus gibt recht besehen keinen Raum zur angemessenen Beurteilung dessen, was Kelsen selbst widerfahren ist – nämlich von einer nach totaler Macht strebenden Majorität in der eigenen Existenz, in seinem Lebensrecht, bedroht zu sein.

Demokratie steht auf festeren normativen Grundlagen. Deren Bekenntnis zu Menschenrechten, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit ist mehr als eine subjektivistisch-relative Meinungskundgebung. Es gibt gute normative Gründe für die Anerkennung und Akzeptanz staatlich gesicherter Grund- und Freiheitsrechte. Denn nur diese Rechte ermöglichen uns, wie Kant dies ausdrückte, im Rechtszustand zu leben und der tristen Alternative des sogenannten "Naturzustandes" zu entkommen: jenem normfreien Zustand, in dem wir nicht durch Regeln und Normen vor den Übergriffen anderer und der Machtausübung des Stärkeren geschützt sind.

Was aber macht den Relativismus für viele Menschen so überzeugend? Ist es das verständliche Verlangen nach Toleranz – Toleranz gegenüber der eigenen Meinung und der selbstbestimmten Art und Weise, sein Leben zu führen? Wie können und sollen wir die Grenzen zwischen Toleranz und Relativismus ziehen? (Herlinde Pauer-Studer, 27.9.2018)