"k_otin" bei einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen: Poetry auf der Bühne.

Foto: Hannah Gehmacher

"k_otin" ist seit April 2004 auf derStandard.at registriert und hat seither 40.000 Postings abgesetzt.

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Wenn in der Früh der Wecker klingelt und mein Mann noch schläft, wandern meine Hände als Erstes zu meinem Liebhaber. Sie erforschen leise, behutsam und neugierig, was Trump ge(t)wittert und Kurz geschwiegen hat. Erfahren von ihm, was sich sonst so auf der Welt getan hat in der Nacht. Denn auch direkt vor dem Einschlafen hab' ich meine Zeit mit ihm, dem Liebhaber, verbracht. Er heißt DER STANDARD und bringt viele schlechte Nachrichten, die guten sind selten geworden. Ich kann mich trotzdem nicht von ihm trennen.

Unsere Liaison geht schon lange, sehr lange: Ich bin nämlich ein treuer Mensch – zumindest was meine Liebhaber betrifft. Meine erste große Liebe war die AZ, die Arbeiterzeitung, die hatten wir zu Hause abonniert, und ich wartete immer darauf, dass mein Papa sie endlich zur Seite legt, damit ich sie mir greifen kann. Mein Papa war Hausmeister, meine Mama Raumpflegerin. Ich ein rotes Arbeiterkind und meine Heldin Johanna Dohnal.

Die Arbeiterzeitung ist 1991 gestorben. Ich durchlebte alle Trauerphasen nach Kübler-Ross, ich war geschockt, wütend, dankbar, ich hoffte und fluchte. Schließlich akzeptierte ich den Verlust, wandte mich wieder dem Leben zu und orientierte mich neu. Die letzte Ausgabe der AZ hab' ich lange aufgehoben, irgendwann fraßen sie die Mäuse. Alles ist vergänglich, auch eine Zeitung. Vor allem eine Zeitung.

Postings, Pilz und neue Freunde

Es folgten etliche One-Week- bis One-Month-Stands, aber die getippten Typen waren mir entweder zu oberflächlich, zu seicht, zu kompliziert oder zu konservativ. Eines Tages lief mir DER STANDARD über den Weg. Es war keine jugendliche, stürmische Liebe auf den ersten Blick, wir näherten uns vielmehr schüchtern einander an.

Als derStandard.at online ging, geriet ich ins Schwärmen, und die Kommentarfunktion löste leises Herzklopfen aus. Ich gab schon immer gerne meinen Senf dazu. Meine erste Wortmeldung richtete sich 2004 an Peter Pilz, der verpflichtende Sozialdienste für Frauen andachte. Als würden wir Frauen nicht ohnehin oft genug unbezahlt und ungedankt Eltern und Schwiegereltern pflegen. Spätestens als die ersten Liveticker auf der Bildschirmfläche erschienen, stand mein Herz in Flammen. (Fast) vergessen war meine alte Liebe.

Den Anton, meinen besten Freund, hab' ich 2011 in Garmisch kennengelernt. Dabei waren wir beide noch nie in Garmisch, zumindest nicht live. Nur im Liveticker. Ich mochte Bode Miller, und Anton mochte Julia Mancuso. Anton mochte meinen Witz, ich seinen Humor, beide mögen wir gutes Essen und schöne Gespräche, und so wurden wir Freunde, auch im richtigen Leben. Obwohl ja der Liveticker auch ein wenig das richtige Leben ist. Das Phrasenschwein im Ticker ist gefüllt mit Sätzen wie "Ein Tor würde dem Spiel übrigens guttun" oder "Wie viel ist das in Badewannen?".

Der Ticker als Stammtisch

Was ich am Ticker mag? Dass es da so menschelt. Ich bin nicht umsonst Sozialarbeiterin. Man kennt viele der "StammtickerTanten", und es fühlt sich an, als würde man am Stammtisch sitzen mit dem Richter, den ExpertInnen für Ehüberhauptalles, den Ahnungslosen, ein paar besoffenen Sturschädeln und der Wirtin. Für gewöhnlich drischt man nicht aufeinander ein, sondern geht ein bisschen respektvoller miteinander um als im Forum. Man will ja auch morgen noch die Bullen gewinnen oder verlieren sehen und den U-Ausschuss und den Opernball tickern. Und dabei erzählen, was es zum Essen gibt und wie es der Katze geht. Das interessiert ja im "echten" Freundeskreis keine Sau.

Hin und wieder geh' ich übrigens halbfremd und versuche es mit der lachsrosa Analogversion. Die ich meistens frustriert schnell wieder zur Seite lege, weil ich die Userpostings nirgends finde. Die helfen mir manchmal mehr, meine eigene Meinung zu schärfen und zu überdenken, als die Artikel. Außerdem bringen sie mich oft zum Lachen, im Gegensatz zu den Nachrichten.

Nein, die Affäre zwischen mir und dem STANDARD verläuft nicht immer friktionsfrei. Ich mag nicht alle Seiten an ihm, aber in meinem Alter weiß man, dass es den perfekten Liebhaber nicht gibt. Manchmal drängt sich die Zensur in unsere Beziehung und löscht meine Gedanken und Wörter.

Schweigen ist keine Option

Bei einigen Themen weht mir im Forum eisiger Wind in Form von roten Strichen entgegen. Da bin ich schon mal versucht, einfach zu schlucken und zu schweigen. Dann finde ich aber, es reicht, wenn der Bundeskanzler schweigt, die k_otin soll ruhig reden. Und dass ich mich auch weiterhin mit halbwegs gutem Gewissen in den Spiegel schauen können will, denk' ich auch.

Manche Angriffe und Unterstellungen, zum Beispiel die, ich sei eine naive Gutmenschin, tun weh. In solchen Momenten wäre ich manchmal lieber ein abgebrühter Schlechtmensch mit Hornhaut auf der Seele. Ich bin ja in Wahrheit zart besaitet und kann mit Kritik am besten umgehen, wenn sie mir als Lob verkleidet entgegenkommt. Aber man kann nicht immer gewinnen.

Warum ich meine Gedanken trotzdem hier teile? Ich kann doch meinem Liebhaber keinen Wunsch abschlagen. (k_otin, 10.10.2018)