Blick ins Innere des Haus-, Hof- und Staatsarchivs am Minoritenplatz, das Schatzkästchen des Österreichischen Staatsarchivs.
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Mehr Weltgeschichte auf einem Blatt Papier ist kaum denkbar. Vor dem beeindruckten Besucher des Haus-, Hof- und Staatsarchivs am Minoritenplatz liegt das Original jenes handschriftlichen Briefs, das die Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den Angeln hob und ins Verderben stürzte: das "Allerhöchste Handschreiben und Manifest", das "Seine k. und k. Apostolische Majestät" am 28. Juli 1914 in seiner Villa in Bad Ischl "zu erlassen geruhte" – Kaiser Franz Josephs I. an Graf Berchtold adressierte Kriegserklärung an Serbien.

Schatzkästchen des Österreichischen Staatsarchivs

Es ist nur eines der auratischen Dokumente, die es bei einer exklusiven Führung durch das Archiv zu sehen gibt, das wiederum auf das 1749 von Maria Theresia gegründete Archiv des Hauses Habsburg zurückgeht und heute so etwas wie das Schatzkästchen des Österreichischen Staatsarchivs (ÖStA) und zugleich dessen Außenstelle in der Innenstadt darstellt: Das 1904 eröffnete Gebäude, das an der Rückseite des Bundeskanzleramts gelegen ist, bewahrt auf elf Stockwerken und in einem überdimensionalen, selbsttragenden Hochregallager aus Eisen eine rund 16.000 Laufmeter umfassende Sammlung an Dokumenten, Karten, Verträgen und Urkunden auf, die bis zum Jahr 1918 reichen.

Im Hochregallager des Haus-. Hof- und Staatsarchiv lagern unter anderem die Bestände des Heiligen Römischen Reichs bis 1806 samt der Goldenen Bulle, die zum Weltdokumentenerbe zählt.

Unter diesen Archivalien – das älteste Dokument stammt aus dem Jahr 816 – befindet sich auch ein Gutteil jener 99 ausgesuchten Objekte, die Wolfgang Maderthaner, der Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, in einem demnächst erscheinenden Prachtband versammelt hat. Der üppig illustrierte Band "Österreich. 99 Dokumente, Briefe und Urkunden" erzählt zum einen eine etwas andere Geschichte Österreichs vom Frühmittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart, zugleich repräsentieren diese Verträge und Urkunden auf eindrucksvolle Weise die Bedeutung dieses Archivs, das zu den wichtigsten der Welt gehört.

Bestände aus 13 europäischen Ländern

"Die Besonderheit unserer Bestände liegt darin, dass sie weit über das heutige Österreich hinausreichen", sagt der habilitierte Historiker Maderthaner, "und weite Teile der europäischen Geschichte umfassen. Denn überall, wo der dynastische Imperialismus der Habsburger Platz griff, fielen natürlich auch Dokumente für das Archiv an, mit denen man unter anderem Rechtssicherheit über ihre Gebietsansprüche herstellen wollte." In diesem anderen "Haus der Geschichte" gibt es heute deshalb Bestände aus dem südöstlichen Europa ebenso wie aus dem heutigen Spanien, aus Belgien, den Niederlanden und Ungarn.

Wolfgang Maderthaner, Generaldirektor des ÖStA.
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Neben der archivalischen Hinterlassenschaft des Hauses Habsburg aus 13 europäischen Ländern finden sich in den Beständen des Österreichischen Staatsarchivs beispielsweise aber auch jene des Heiligen Römischen Reichs vom Mittelalter bis ins Jahr 1806 und seine rund 75.000 Prozessakten. Einige Objekte wie die Goldene Bulle – das aus dem Jahr 1356 stammende Grundgesetz des Heiligen Römischen Reichs – oder die Schlussakte des Wiener Kongresses 1815 gehören zum Weltdokumentenerbe. Auch sie sind im Band "Österreich. 99 Dokumente, Briefe und Urkunden" mit ausführlichen Erläuterungen abgedruckt.

Ende des bürokratischen Prozesses

"Zum einen ist das Staatsarchiv also international bedeutendes Kulturgut", sagt Maderthaner, "zum anderen ist es aber auch Endpunkt des bürokratischen Prozesses." Sprich: Alle Dienststellen des Bundes, auch die Geheimdienste, sind – zumindest theoretisch – verpflichtet, ihre Akten an das 1945 gegründete Staatsarchiv abzuliefern, dessen Hauptsitz ein eher hässliches und mittlerweile schon wieder etwas baufälliges Gebäude aus den 1980er-Jahren an der Südosttangente in Wien-Erdberg ist. Und diese Nähe zur Bürokratie ist auch der Hauptgrund, warum das Österreichische Staatsarchiv als nachgeordnete Stelle des Bundes dem Bundeskanzleramt untersteht.

Unter den Akten, die dem Staatsarchiv übergeben werden, gehören aber etwa auch alle Anträge und Urteile des Asylgerichtshofs, sagt Maderthaner, "und das sind enorme Bestände". Wer in 30 Jahren erforschen will, was sich 2015 in Österreich zutrug und wie man mit den Asylsuchenden umging, wird ab 2045 im Österreichischen Staatsarchiv fündig werden.

Die Akten werden nämlich erst nach einer Schutzfrist von 30 Jahren – bei besonders heiklen Fällen wie nachrichtendienstlichen Informationen oder Verschlussakten erst nach 50 Jahren – allgemein zugänglich. Wie etwa jener Akt über Skistar Toni Sailer, als er 1974 in Zakopane wegen "Notzucht" verhaftet worden war und für ihn dann von höchsten Stellen der Republik interveniert wurde.

Archivalien digitalisieren, Digitales archivieren

Es sind freilich nicht nur die explodierenden Aktenbestände, die das Archiv mit seinen insgesamt rund 200.000 Laufmetern an Regalen vor Herausforderungen stellen, sondern auch die aktuelle Phase des Übergangs von analoger zu digitaler Speicherung. In den Worten Maderthaners: "Wir sind einerseits dazu angehalten, die analogen Bestände des Archivs zu digitalisieren, andererseits das Digitale archivieren." Mit dem Digitalen Langzeitarchiv, einem neuen Archivierungssystem für digitale Akten, hätte man da auch im internationalen Vergleich eine Vorreiterrolle einnehmen können. Allein man mag es seitens der Ministerien nicht so recht befüllen.

Angesichts dieser enormen Aufgaben des Staatsarchivs und seiner internationalen Bedeutung würde man erwarten, dass der Bund großes Interesse hat, diese Gedächtnisinstitution von europäischer Bedeutung halbwegs adäquat bei ihren Aufgaben zu unterstützen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Die Politik geht seit vielen Jahren nicht nur mit der Zukunft ihrer Aktenbestände, sondern damit auch mit der unserer Vergangenheit äußerst fahrlässig um.

Sparmaßnahmen beim Personal

Seit Beginn dieses Jahrhunderts folgte für das Staatsarchiv eine Sparmaßnahme auf die andere, im aktuellen Budget der neuen Regierung sind abermals Einsparungen von 15 Prozent vorgesehen. Drittmittel etwa über Forschungsprojekte kann und darf das Archiv als Institution des Bundes auch nicht einwerben. Nachgerade dramatisch ist die Personalsituation: Hatte das Staatsarchiv im Jahr 2000 noch rund 150 Mitarbeiter, sind es aktuell etwa 100. So kommen auf einen Mitarbeiter sehr viel mehr zu betreuende Regalmeter als bei vergleichbaren Archiven im Ausland.

Fast noch schlimmer wiegt, dass Generaldirektor Maderthaner trotz seines eindrucksvollen Titels keinerlei Personalhoheit hat und sich also nicht einmal seine Archivmitarbeiter für die schrumpfende Zahl der Planstellen selbst aussuchen darf. Man kann sich vorstellen, dass man im Bundeskanzleramt Personalzuteilungen – so überhaupt frei werdende Stellen nachbesetzt werden – nicht nur nach einschlägigen Qualifikationen vornimmt.

Das lässt auch die oft beklagten Benutzungsbedingungen des Staatsarchivs in einem etwas anderen Licht erscheinen. Zwar hat sich unter der Direktion von Maderthaner seit 2012 einiges zum Besseren verändert: So muss man in den Lesesälen keine weißen Handschuhe mehr tragen, um Archivgut zu studieren. Und seit nicht allzu langer Zeit ist man nicht mehr auf die teuren Kopierer und Scanner angewiesen, sondern darf Archivalien auch fotografieren, was unter konservatorischen Gesichtspunkten ebenfalls Vorteile hat.

Verbesserbarer Benutzerservice

Dennoch gibt es bei der Benutzerfreundlichkeit des Staatsarchivs immer noch relativ viel Luft nach oben: Die Kataloge sind nach wie vor nur im Staatsarchiv selbst vorhanden und die Bestände zumindest für die Benutzer nur zum Teil digital durchsuchbar. Die Formalitäten bei der Anmeldung und Bestellung sind im Vergleich zu großen Archiven im Ausland recht aufwendig, um es höflich zu formulieren.

Schließlich hat man sich im Vorjahr aufgrund der Personalknappheit noch dazu entschließen müssen, das Staatsarchiv, das wegen seiner einzigartigen Bestände von Forschern und Interessierten nicht nur aus Österreich, sondern aus aller Welt frequentiert wird, freitags für Benützer zu schließen. Zwar haben daraufhin einige international renommierte Historiker von Top-Unis wie Deborah Coen und Timothy Snyder (beide Yale), Holly Case (Brown University) oder Pieter M. Judson (Europäisches Hochschulinstitut in Florenz) in einer gemeinsamen Petition, die dem STANDARD vorliegt, gegen den im Vorjahr eingeführten zusätzlichen Schließtag am Freitag protestiert.

Doch was seltsamerweise fehlte, war und ist ein koordinierter Aufschrei der heimischen Historiker angesichts der Aushungerung und Geringschätzung dieser bedeutenden Kulturinstitution durch die Politik – und zwar nicht erst seit der aktuellen Regierung.

Neue Organisationsstruktur?

In den vergangenen Jahren wurden deshalb auch Überlegungen angestellt, dem Österreichischen Staatsarchiv eine neue, etwas autonomere Struktur zu geben, etwa ähnlich jener der Österreichischen Nationalbibliothek. "Das Problem dabei sind aber die anderen Funktionen des Staatsarchivs", so Maderthaner. "Und die liegen nun auch einmal darin, der Verwaltung zu dienen."

Anders als Bibliotheken, Museen oder andere vergleichbare Institutionen erfüllt das Archiv keinen unmittelbaren Bildungsauftrag, obwohl sich Maderthaner durch Ausstellungen wie jene über die Revolution 1848 oder den Bildband Österreich quasi als Fleißaufgabe auch dafür engagiert. Vor allem aber ermöglicht das Staatsarchiv durch seine Bestände anderen Institutionen, ihren jeweiligen Aufträgen nachzukommen: Egal, ob es um große Ausstellungen zur Geschichte Österreichs geht, historische Publikationen, journalistische Recherchen, aber auch Untersuchungsausschüsse im Parlament – alle sind auf ein funktionierendes Staatsarchiv und seine einzigartigen Bestände angewiesen. (Klaus Taschwer, 30.9.2018)