Die Talking Heads in der Gala des Ortskreativen: Eine Mischung aus Paisley und Leiner-Vorhang, gepaart mit Konditoreisesselbezug aus dem Stoffkatalog von 1984.

EMI

Neuer Monat, neuer Blog. Die Idee dazu gärt schon länger, jetzt, zur Sturmzeit, passt es gerade, weil ich mich mit mir bei der Auswahl für den heute fälligen Eintrag für Unknown Pleasures nicht einigen konnte, welches Werk vor den Vorhang sollte. Unknown Pleasures läuft aber auf jeden Fall weiter. Die Praxis dieser Musikseelsorge hat aber gezeigt, dass nicht jede dringend notwendige Musikalienpredigt der Auflage "Unknown" entspricht. Um den ohnehin streitigen Begriff nicht jedes Mal rechtfertigen zu müssen, gibt es ab sofort als Parallelexistenz die Reihe Remain in Light.

Der Titel ist beim vierten Album der Talking Heads entliehen. Er soll auf Arbeiten verweisen, die zwar breiter bekannt sein mögen, aber es verdienen, dass an sie erinnert wird. So. Nichts wäre naheliegender gewesen, als dann gleich Remain in Light abzufeiern; vielen gilt es ohnehin als beste Arbeit der Talking Heads. Es ist 1980 erschienen, ein Jahr nachdem Joy Division mit Unknown Pleasures debütiert hatten. Das bedeutet für einen möglichen Drittblog einen Namen, der sich bei einem Albumtitel von 1981 ... – aber ich schweife ab.

In den Mainstream katapultiert

Also: Remain in Light ist es nicht geworden, ein Talking-Heads-Album schon. Der erste Eintrag behandelt Little Creatures. Das ist aus dem Talking-Heads-Universum eine vielleicht unübliche Wahl. Schließlich gelten vornehmlich die frühen Alben als weg- und bahnbrechend, und das wird hier nicht in Abrede gestellt.

Little Creatures aber, das erschien nach dem Welterfolg des sportlichen Konzertfilms und des dazu erschienenen Albums Stop Making Sense. Damals waren alle gespannt, wie die vier New Yorker nachlegen würden, denn Stop Making Sense hatte die Band in den Mainstream katapultiert. In jeder Dorfdisco lief plötzlich Burning Down The House – eingebettet zwischen Ergüsse von Samantha Fox, Falco und Duran Duran.

Besondere Perspektive

Stop Making Sense war ein üppiges Menü gewesen. Zwar näherte sich die Band kleinweise der Aufgabe, kam nacheinander auf die Bühne – bis aber am Ende eine große Besetzung einen Riesenzirkus aufführte.

Doch Little Creatures markierte eine Zäsur. Tina Weymouth, Chris Frantz, Jerry Harrison und David Byrne nahmen mindestens einen Gang heraus, traten einen Schritt zurück und setzten dort an, wo sie ein Album wie More Songs About Buildings And Food schon einmal hingeführt hatte: bei US-amerikanischen Alltagsaufnahmen, denen die verschrobene Sichtweise des David Byrne ihre besondere Perspektive verliehen hatte. Sieben Jahre nach More Songs ... wirkte das sehr erwachsen – und klang anders. Bereits das Cover irritierte.

Das Wimmelbild-Cover von Reverend Finster: harte Suppe.

Das ziert ein Wimmelbild in der Nähe der allseits verhassten Naiven Kunst. Gestaltet hat es der 2001 gestorbene Howard Finster. Der malte derlei Bildchen wie am Fließband, war 1985 ein Reverend und wiedergeborener Christ und von seiner Biografie her so etwas wie ein amerikanisches Original. (Finster hatte zuvor das Cover für das R.E.M.-Album Reckoning gestaltet.) Dessen Blick funktionierte bestens für die Absicht der Talking Heads.

Für abgebrühte New Yorker wie Byrne war diese unschuldige Perspektive verlockend. Dieser von höherer Bildung und verwegenen Träumen unverbaute Blick auf das Leben und Wirken braver Hinterlandbewohner faszinierte ihn.

Kreative Gala

Ganz neu war es nicht, denn die Sachlichkeit und die trockenen Themen früher Talking-Heads-Songs führten zu ähnlichen Sichtweisen. Doch dieses Mal musste sogar die Band in eine Gala schlüpfen, die nicht einmal der ortsansässige Kreative mit der Töpferei freiwillig anziehen würde. Eine Mischung aus Paisley und Leiner-Vorhang, gepaart mit Konditoreisesselbezug aus dem Stoffkatalog von 1984.

Und sogar den Zyniker nahm Byrne als Songschreiber an die Leine. "What you see is what you get", singt er in Walk It Down – und diese Unmittelbarkeit prägt das Album.

Walk It Down – große Augen für das Leben im Hinterland.
Elisabetta Sellaroli

Little Creatures widmet sich dem Leben im Amerika der 1980er, dem Leben von Erwachsenen im Familiengründungsalter. Ronald Reagan mimt in seiner besten Rolle den harten, aber gütigen Präsidenten, verkauft Optimismus – und zerstört gleichzeitig die Mittelschicht. Doch noch ist das nicht überall spürbar.

Objektiv und distanziert

Der zappelige New Wave, der Minimal-Funk des Frühwerks, wich einem gesetzteren Tonfall. Dem schrieb Byrne in Titeln wie The Lady Don’t Mind oder Stay Up Late eine Gefühligkeit ein, die neu war. Er sang in einer Mischung aus Empathie und Distanziertheit über kleine Kinder, Fernsehen oder Liebe. Scheinbar objektiv und ohne zu richten.

Die Slide gespielte Gitarre deutet bereits einen näherrückenden Ausflug an, der die Band aus New York herausführen würde: The Lady Don't Mind.
David Byrne

Begriffe wie "Highway" oder "Factory" verorteten die Songs im Alltag, dem gegenüber deutete er versteckte Sehnsüchte an. Doch nie sind die zu wild, um daraus das kleinfamiliäre Glück der "Little Creatures" zu gefährden: Kinder brauchen Eltern. Hat man einmal Kinder, werden die eigenen Träume nachgereiht – wenn es denn außer Kindern überhaupt je welche gab. Byrne singt Sachen wie

"Cute. Cute. Little baby,
Little pee pee. Little toes.
Now he's comin' to me.
Crawl across. The kitchen floor."

Süß.

Mit dem Seitenwechsel der Langspielplatte betrachtet Byrne langsam ein größeres Panorama. Television Man deutet an, dass er kein Einzelschicksal besingt und dass sich das amerikanische Idyll längst auf einen Abgrund zubewegt: "Television made me what I am", singt er. Noch verleiht er seinem Erzähler den Tonfall der Überzeugung. Dabei gab es damals schon wenig Zweifel, dass das keine allzu günstige Selbstdiagnose sein kann.

"Television made me what I am" – die Talking Heads in Television Man.
zetsusama23

Am Ende des Albums schleicht sich doch eine Spur Zynismus ein: Wenn die Band wie der Gesangsverein von Backwood, USA, in einträchtigem Chorgesang Road to Nowhere intoniert, ist es schwer zu überhören, dass hier eine Haltung überführt wird, deren Selbstsicht vom Rest der Welt isoliert ist, alternativ- und fantasielos am Mythos des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten festhält.

"We're on a road to nowhere Come on inside.
Taking that ride to nowhere We'll take that ride.
I'm feeling okay this morning. And you know.
We're on the road to paradise. Here we go, here we go."
"The future is certain, give us time to work it out." Wie das Leben auf der Road to Nowhere halt so spielt.
David Byrne

Auf More Songs about Buildings and Food sang Byrne in The Big Country noch "I wouldn't live there if you paid me to". Wenige Jahre später untersuchte er mit großem Interesse Leben und Kultur des US-amerikanischen Hinterlands. Byrnes Faszination an diesem anderen Amerika war so groß, dass sie noch ein Album lang anhielt. 1986 erschien mit True Stories eine Art Fortsetzung, für die er sogar einen Spielfilm selben Titels gedreht hatte. (Schwere Empfehlung, by the way).

"I wouldn't live there if you paid me to": Byrne im Song The Big Country, 1979.
PJFOX2

Der Weg ins Hinterland und zurück in die Reduktion erwies sich für die Talking Heads als gute Entscheidung. Little Creatures verkaufte sich allein in den USA zwei Millionen Mal, im Rest der Welt wahrscheinlich noch einmal so oft.

Road to Sledgehammer

Road to Nowhere schenkte dem Album eine unverhoffte Hitsingle, zur Zeit der Weltherrschaft von MTV multiplizierte das berühmt gewordene Video zum Song den Bekanntheitsgrad der Band. Nebenbei hat es Peter Gabriels Video zu Sledgehammer maßgeblich beeinflusst.

Die Talking Heads veröffentlichten 1988 mit Naked ihr letztes Album – da driftete Byrne bereits in die Weltmusik ab. Für dieses Interesse sollte er im selben Jahr das Label Luaka Bop gründen – die Talking Heads waren Geschichte. (Karl Fluch, 2.10.2018)