Das Rhizomatic Circus Collective aus Wien wurde 2016 gegründet. Seine jüngste Arbeit läuft im F23: "An Octopussy's Journey".

Foto: www.gregorbuchhaus.com

Elefanten in die Zirkuskuppel hinaufzuhieven sei "irrational, bringt aber ein starkes Gefühl". Sagte der später am Trapez verunglückte Artist Manfred Peikert in Alexander Kluges preisgekröntem Film Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1967). Um solch ein "starkes Gefühl" ringt alle Kunst, auch wenn sie ihren Aufwand meist deutlich geringer halten muss. Es entsteht eine Tragik zwischen Performer und Objekt oder auch nur das Drama zwischen dem Performer und seinem Körper. Die Natur zu bezwingen, dem Fortschrittsglauben zu huldigen, die Leistungsfähigkeit des Menschen ins Unvorstellbare zu steigern: Das alles waren Motive des Industriezeitalters, aus denen heraus sich am Beginn des 19. Jahrhunderts die ersten großen Zirkusse gegründet hatten.

Auch in Wien boomte das Zirkusgeschäft mit Kunstreitturnieren, großen Manegeschauspielen oder Wasserpantomimen. Zur Veranschaulichung: In der Rotunde im Wiener Prater etwa bot der Riesenzirkus Barnum & Bailey zur Jahrhundertwende 8000 Besuchern Platz. Weltkriege, Tierschutz und neue Medien haben den Zirkus im letzten Jahrhundert aber verdrängt und ihn zu einem irrelevanten Unterhaltungsformat abgestempelt, das einmal im Jahr, wenn alles gutgeht, Abwechslung ins Dorfleben bringt oder als vazierender Streichelzoo dient.

Die Show "Amorph" von Rhizomatic Circus Collective.
Rhizomatic Circus

Keine Tiere mehr

Doch im Verborgenen lebt der Zirkus weiter. Er hat sich nur erneuert. Schon in den 1970er-Jahren haben die von Frankreich ausgehenden Zirkusstücke (keine Tiere mehr, dafür mehr Poesie und Geschichte) eine neue Ära eingeläutet. Einige Compagnien dieses Cirque nouveau machen bis heute weltweit Furore, etwa der kanadische Cirque du Soleil oder der schwedische Cirkus Cirkör.

Die Zirkuskunst wandelt sich indes weiter und erfährt gerade jetzt eine Frischzellenkur durch die Annäherung an andere Kunstsparten, etwa durch die Übernahme von Elementen aus dem Performance- und Tanzbereich. Umgekehrt interessieren sich auch angesagte Tänzerinnen wie etwa Florentina Holzinger, die für ihre die Körpergrenzen negierende Kunst bekannt ist (Nagel in die Nase rammen) für zirzensische Praktiken. Im Zirkusbereich wächst also gerade eine neue Generation heran, die aus der Manege eine Bühne mit dezidiertem Kunstanspruch macht.

Kleiner Fördertopf

Seit 2016 wird diese neue Zirkuskunst in Österreich auch mit öffentlichen Geldern gefördert, aus einem hart erkämpften neuen kleinen Geldtopf von 200.000 Euro jährlich, die der Bund bereitstellt. Die zwei ersten Jahre waren sehr produktiv. Eine der spannendsten Gruppen ist das Wiener Rhizomatic Circus Collective, dessen neue Arbeit An Octopussy's Journey derzeit in der ehemaligen Liesinger Sargfabrik, im F23 läuft.

Die aus rund 30 Leuten bestehende Frau- und Mannschaft hat als einzige Formation auch eine Förderung der Stadt Wien erhalten. Warum könnte also der Zirkus gerade jetzt wieder "in" werden? Mögliche Antwort: Zirkuskunst könnte ein wichtiger Gegenschauplatz zum normativen Kulturbegriff sein. Zirkus ist durch seine meist nonverbale Ausdrucksweise, aber auch durch seine Verortung an öffentlichen, leicht und oft kostenlos zugänglichen Plätzen eine niederschwellige oder besser: inklusive und integrative Kunstform. Ein Ziel, dem sich institutionalisierte Theaterhäuser kaum und auch sehr viel schwerer annähern.

Pack die Badehose ein: "An Octopussy's Journey" von Rhizomatic Circus Collective.
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Kunstraum von unten

"Zirkus war immer ein Kunstraum von unten, selbst wenn er als Spektakel verpackt war", sagt Nina Vobruba, die dem künstlerischen Leitungsteam des Rhizomatic Circus Collective angehört. "Es ist ein interkultureller Ort, an dem sich nicht normative Menschen getroffen haben, weil ihre Körper definiert waren oder weil sie aus Geschlechterrollen herausgefallen sind, ein Sammelbecken für Freigeister. Mit diesem Teil der Tradition fühlen wir uns verbunden."

Der Name "Rhizomatic" bezieht sich auf den von dem Philosophen Gilles Deleuze eingeführten Begriff des "Rhizoms", der ein postmodernes Modell der Wissensorganisation meint, einfach gesagt: wild wachsende Wissens- und Ideengeflechte. Und dementsprechend vereint das im Herbst 2016 gegründete Kollektiv viele Disziplinen unter einem Dach, vom Tanz und Schauspiel über Performance, Videokunst, Literatur, Medienkunst, Netzaktivismus, Akrobatik bis hin zu bildender Kunst und Musik. Das Kollektiv fühlt sich dort zu Hause, wo Kunst genreübergreifend passiert.

Sieht nicht nach Zirkus aus? Soll es auch nicht. Das Rhizomatic Circus Collective & Co erfinden den Zirkus neu.
Foto: www.gregorbuchhaus.com

Die Entwicklungen des zeitgenössischen Zirkus der letzten Jahrzehnte hat Österreich weitgehend verpasst; mangels geeigneter Räume und Produktionsstrukturen mussten Protagonisten ins Ausland ausweichen. Vor allem die Raumhöhe ist ein Problem; ab 20 Metern wird es erst so richtig interessant. Auch Trainings- und Kreationsräume fehlen, sagt Arno Uhl. Ausgebildet in Granada, hat der Zirkuskünstler u. a. das Curious Circus Collective und den dada zirkus gegründet. Das waren die ersten Sammelbecken von Zirkuskünstlern in Österreich, die der Nährboden für eine gute Kooperation und den Zusammenhalt waren. Denn vieles muss trotz der neuen Förderung noch improvisiert werden.

Konzepte für Zirkuszentrum

"Langsam regt sich etwas", sagt Uhl. Seit Mai gibt es beispielsweise in Salzburg ein Circus Training Centrum. Dennoch sei der Projektfördertopf von 200.000 Euro für alle nur ein Notnagel. Vor allem aber fehle es noch an öffentlicher Anerkennung und Bewusstsein für die zeitgenössische Zirkuskunst. Immer noch glauben viele – selbst Veranstalter -, hier seien wilde Tiere im Anmarsch. Seit Jahren werden Konzepte für ein Zirkuszentrum von Förderstelle zu Förderstelle gereicht, ohne Ergebnis.

Jetzt aber taucht ein innovatives Arbeits- und Wohnprojekt namens SchloR (Schöner leben ohne Rendite) in Wien-Simmering am Horizont auf – ein Betriebsgelände mit 3000 Quadratmetern, das mit einer Direktkreditkampagne im Entstehen begriffen ist und auf dem der Zirkus eine Heimatbasis finden könnte. Indes reaktiviert Nina Vobruba mit rund 50 Leuten in der südoststeirischen Gemeinde Fehring eine alte Militärkaserne als Gemeinschaftsareal mit einer Riesenhalle zum Proben, mit Residency-Strukturen und Werkstätten. Das Bühnenbild für An Octopussy's Journey ist bereits dort entstanden. Hier ist eine enorme Schaffenskraft spürbar, die um Freiräume ringt und noch von sich hören lassen wird. (Margarete Affenzeller, 3.10.2018)