Unser Sozialsystem erschwert Betroffenen das Gesundwerden nach einer psychischen Erkrankungen, sagt die Expertin.

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Heidrun Ziegler (55) ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutin. Sie arbeitet in Wien als Wahlärztin und in Niederösterreich in einem psychosozialen Ambulatorium.

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STANDARD: "Was verändert sich da gerade in unserer Gesellschaft?" Diese Frage wird auf der Einladung zur Tagung "Psychisch gesund – bleiben?" gestellt. Was ist Ihre persönliche Antwort auf diese Frage?

Ziegler: Menschen sind sozialversichert, sie zahlen dafür Steuern. Wenn sie diese Versicherungsleistung dann aber in Anspruch nehmen wollen, müssen sie das mehr und mehr rechtfertigen. Das Gesundheitssystem verändert sich so, dass Patienten immer öfter zu Kontrollterminen müssen – etwa bei der Sozialversicherung oder beim AMS. Ich als Ärztin bin zunehmend mit Verwaltung und als Zulieferin für Kontrollinstanzen beschäftigt und muss immer mehr Befunde, Stellungnahmen und Berichte abliefern. Auch Sozialarbeiter und viele andere, die im System arbeiten, müssen immer mehr rechtfertigen, warum ein Patient noch nicht wieder arbeiten kann. Da hat sich die Grundhaltung in den letzten Jahren enorm verändert.

STANDARD: Wie geht es den Patienten damit?

Ziegler: Wer krank ist und nicht nach drei Wochen wieder arbeiten kann, muss einen enormen Aufwand betreiben und sich durch verschiedene Institutionen kämpfen. Dabei geht es uns in Österreich sehr gut. Mittel sind genug vorhanden. Doch wer sie braucht, muss sich sehr anstrengen, um Zugriff darauf zu bekommen. Patienten werden in diesem Prozess von Anspruchsberechtigten einer Versicherungsleistung zu Bittstellern gemacht. Das löst eine unerträgliche Grundstimmung aus.

STANDARD: Wie wirkt sich die aus?

Ziegler: Die Betroffenen haben Angst vor den Kontrollterminen. Sie fühlen sich wertlos und ausgeliefert. Bei psychisch kranken Menschen ist ja genau das erkrankt, was man braucht, um selbstbewusst auf ein Amt zu gehen und dort hartnäckig für das einzustehen, was einem zusteht. Wenn jemand depressiv und erschöpft ist oder mit Wahnvorstellungen zu kämpfen hat, fehlt es an der nötigen Kraft.

STANDARD: Welche Rolle spielt der Leistungsdruck in der Arbeitswelt?

Ziegler: Ich erlebe vor allem in meiner Wahlarztordination, dass Menschen Angst haben, in den Krankenstand zu gehen. Sie haben Panikstörungen, leiden unter völliger Erschöpfung und Schlafproblemen und gehen trotzdem weiter arbeiten, weil sie sich vor einem Jobverlust fürchten. Oft ist diese Angst auch berechtigt. Vor allem Menschen über 45 verlieren nach einem langen Krankenstand oft ihren Job. Auch Menschen mit psychischen Symptomen sind stärker gefährdet. Weil sie immer wieder erkranken, werden sie "aussortiert", das merken wir im psychosozialen Dienst sehr stark. Wer einmal eine schwere Depression hat, könnte ja wieder eine bekommen. Diese Menschen sind im Beruf klar im Nachteil.

STANDARD: Aber speziell dafür gibt es doch Programme.

Ziegler: Ja, es gibt auch gute Projekte zum langsamen Wiedereinstieg ins Arbeitsleben, wo auch nicht der Dienstgeber von Anfang an das Gehalt zahlen muss. Für schwer Erkrankte bringen sie aber nichts.

STANDARD: Wie geht es den Menschen konkret, die mit einer psychischen Erkrankung im Krankenstand sind?

Ziegler: Zunächst will der Arbeitgeber wissen, wann man wieder kommt. Arbeitskollegen rufen an und fragen: Was ist denn los mit dir? Das kann freundlich gemeint sein, macht aber Druck, und die Betroffenen erleben das oft als Kontrollanrufe. Gerade mit einer psychischen Erkrankung wollen sich viele nicht outen, weil es immer noch viel Stigmatisierung gibt.

STANDARD: Was verlangt das System?

Ziegler: Nach spätestens einem Monat Krankenstand wird man von der Krankenkasse zum Kontrollarzt vorgeladen. Leider laufen diese Termine manchmal wenig respektvoll ab. Psychisch kranke Mensch beschweren sich deshalb aber in den seltensten Fällen. Sie fühlen sich dadurch jedoch in ihrem Gefühl der Wertlosigkeit und Ohnmacht bestärkt. Diese Kontrolltermine finden dann monatlich statt, bei Bewilligung von Rehabgeld durch die PVA gibt es weitere Auflagen, die zu erfüllen sind, da sonst das Geld gestrichen wird. Aber auch die Mitarbeiter im System stehen unter Druck, weil viel über die Finanzierung gestritten wird. Die Frage ist immer, wer zahlt: Entweder das AMS das Arbeitslosengeld, die GKK das Krankengeld oder die PVA das Rehabgeld. Alle Akteure stehen unter dem Druck, möglichst wenig Geld auszugeben. Übergeordnet betrachtet ist das ein Blödsinn.

STANDARD: Warum?

Ziegler: Ein Mensch, der ein oder zwei Jahre psychisch krank ist und durch das System mit den ewigen Begutachtungen und den vielen Auflagen, gejagt und zwischen AMS, Krankenkassen, Pensionsversicherung und irgendwann auch Gutachtern und Gerichten, "herumgeschupft" wird, kostet das System viel Geld.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Ziegler: Wenn man die Patienten in Ruhe lassen würde, ihnen einfach in ausreichender Höhe Geld geben würde, dass sie sich sortieren, zur Ruhe kommen und neu orientieren können, müssten sie nicht dauernd zusätzlich finanzielle Existenzängste leiden, die die Gesundung deutlich verzögern. Das würde das Gesundheitssystem insgesamt billiger kommen. Nicht jeder muss extrem kontrolliert werden, das ist kontraproduktiv und verursacht Mehrkosten. Sind Menschen von Verpflichtungen entlastet und haben ausreichend Zeit, gesund zu werden, übernehmen sie schneller wieder selbst Verantwortung, weil sie nicht dauernd bevormundet werden. Mit der Zeit bekommen sie eigene Ideen und überlegen sich, wie, wann und was sie wieder arbeiten können. (Bernadette Redl, 7.10.2018)