Wien – Christoph Pelczar kam 1996 aus Krakau nach Österreich. In Polen hatte er Philosophie und Psychologie studiert, in Wien inskribierte er Theologie. 2000 wurde er zum Priester geweiht. Er hat einen Bruder "mit einem ganz normalen, einem technischen Beruf". Der 43-Jährige ist katholischer Pfarrer im niederösterreichischen Weikendorf. Er ist auch Ehrenbürger der Marktgemeinde. "Mehr geht nicht."

Als offizieller Rapid-Pfarrer ist er quasi Herr über den interreligiösen Andachtsraum im Allianz-Stadion. Pelczar war 2016 Delegationsmitglied bei der EM in Frankreich, geholfen hat es nicht, Österreich scheiterte in der Gruppenphase. Er initiierte mehrere Kinder- und Jugendprojekte, schreibt an einem Buch, Inhalt sind die Sehnsüchte der Rapidspieler. Pelczar versäumt kein Heimspiel. "Ich stimme den Messeplan auf den Spielplan ab." Seine Lebensphilosophie lautet: "Siege über dich selbst, und die Welt liegt dir zu Füßen."

STANDARD: Im Alten Testament heißt es, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Warum wird dann ein Fußballer nach einem Revanchefoul ausgeschlossen?

Pelczar: Interessante Frage. Wir haben das alte Recht durch ein neueres ersetzt, das auch im Stadion angewendet werden sollte.

STANDARD: Stichwort Bergpredigt.

Pelczar: Stimmt. Entscheidend ist auf dem Platz und im normalen Leben das Gesetz der Liebe. Auge um Auge, Zahn um Zahn gilt nicht mehr, es ist ein schreckliches Bild für das Miteinander. Die roten Karten nach einem Revanchefoul sind also gerechtfertigt.

STANDARD: Es wird immer wieder der Begriff Fußballgott strapaziert. Stört Sie das?

Pelczar: Mich persönlich stört es nicht. Es ist ein Ausdruck der Sehnsucht, der Suche nach den echten Werten, dem Unerreichbaren. Das soll in jedem Menschen, in jedem Atemzug sein. Steffen Hofmann ist Rapids Fußballgott. Er hat in einem Interview gesagt, er sei keiner, nicht einmal seine Kinder dürfen das sagen. Aber er ist es, die Leute suchen Idole, Vorbilder. Steffen hat mit Leidenschaft und Herz etwas erreicht, war immer für den Verein da, versuchte, Ruhepol zu sein. Deshalb bekam er eine der höchsten Auszeichnungen. Fußballgott ist nur ein Titel.

STANDARD: Was fasziniert Sie am Fußball und konkret an Rapid? Wie ist diese Beziehung entstanden?

Pelczar: Mich faszinieren am Fußball die Gemeinschaft, die Fans mit unterschiedlicher Herkunft, mit divergierenden Auffassungen. Fußball verbindet uns alle. Treffe ich Menschen, die abweisend sind gegenüber Religionen, die andere schlechtmachen, und spricht man dann mit ihnen über Fußball, sind alle Grenzen weg. Du hast Zugang zu den Herzen der Menschen. Hin und wieder kann der Kleine den Großen schlagen, Fußball ist die wiederkehrende David-und-Goliath-Geschichte.

STANDARD: Und warum Rapid?

Pelczar: Ich bin 1996 nach Österreich gekommen, habe vorher selbst probiert, Fußball zu spielen, das war mein Traum. Aber der Fußballgott wollte es nicht, war entschieden dagegen. Meine Lieblingsposition war übrigens Tormann, Ich habe gar nicht den Verein gesucht, der die meisten Anhänger hat, sondern jenen, der irgendetwas ausstrahlt, Botschaften hat. Das war halt Rapid.

STANDARD: Es heißt seitens des Klubs, Rapid sei eine Religion. Ist das nicht Blasphemie?

Pelczar: Nein. Wir wissen genau, dass Rapid im echten Sinne keine Religion sein kann. Religion ist ja immer etwas Erlösendes. Dieser Faktor fehlt bei Rapid. Rapid hat ja nichts Erlösendes. Drei Punkte können nie eine Erlösung sein. Erlöst wird man von Krankheiten.

STANDARD: Josef Hickersberger hat einst im Spaß das alte Stadion Sankt Hanappi genannt. Ganz im Ernst werden Stadien zu Kathedralen erklärt. Sie halten im Andachtsraum des Allianz-Stadions Taufen und Hochzeiten ab. Ist das nicht leicht seltsam?

Pelczar: Nein. Die Menschen sind auf der Suche, besonders in diesen Zeiten. Keine Sportstätte in Österreich hat so etwas. Der Fan kann in dieser speziellen Stimmung die wichtigsten Etappen des Lebens feiern. Fußball ist eine der wenigen Konstanten.

STANDARD: Aber die Gemeinschaft verkündet auch manchen Unsinn. Stadien sind mitunter Stätten der Gewalt und nicht unbedingt der Nächstenliebe. Es gibt Platzstürme, feindselige Gesänge oder Transparente, gerade Teile des Rapid-Anhangs sind diesbezüglich verhaltensauffällig. Macht Sie das nicht traurig?

Pelczar: Es macht mich jedes Mal traurig, wenn auch nur eine Stimme zu hören ist, die den anderen beleidigen, verletzen möchte. Das hat mit dem Fußball, den wir haben möchten, nichts zu tun. Aber sogar in der Kirche finden sich immer wieder Chaoten, die eine Bühne als Ventil der eigenen Frustration nutzen.

STANDARD: Wie kann man dagegenwirken?

Pelczar: Man muss an die Basis gehen, Kindern beibringen, dass Gewalt der komplett falsche Weg ist. Ich bin stolz, dass wir 3000 Kinder haben, die gewaltlos kommunizieren. Hofmann, Ljubicic und Strebinger haben die Patenschaft für dieses Projekt übernommen.

STANDARD: Ist das nicht etwas naiv? Fußball ist doch ein Spiegelbild der Gesellschaft, die zunehmend verroht. Oder muss man als Priester berufsbedingt ans Gute glauben?

Pelczar: Es ist meine Überzeugung. Gewaltlosigkeit hat eine Zukunft. Es geht um Grundsätze wie: Sei mit vollem Einsatz und Freude bei der Sache. Sei ehrlich mit dir und mit den anderen. Behandle alle mit Respekt, jeder ist wichtig. Große Ziele kann man nur gemeinsam erreichen. Gib nicht auf, auch wenn es schwierig wird. Freu dich über den eigenen Erfolg und den der anderen. Der letzte Punkt ist im Stadion halt schwierig umzusetzen. Ein Rapidler kann und soll sich natürlich nicht über drei Punkte der Austria im Wiener Derby freuen. Das wäre, scherzhaft gesagt, Blasphemie.

STANDARD: Ohne ins Detail zu gehen oder gar Beichtgeheimnisse zu verraten, viele Spieler suchen mit Ihnen das Gespräch. Was sind die Sorgen, die Grundanliegen? Woran nagt der gewöhnliche Rapidler?

Pelczar: Es gibt zwei Themen. Das persönliche, private Leben. Wie kann ich glücklich sein? Und dann möchten sie ohne Angst und mit Stolz für diesen Verein spielen. In letzter Zeit war die Verunsicherung stark zu spüren.

Christoph Pelczar betet vor Spielen in Rapids Andachtsraum. Aber nicht um drei Punkte.
Foto: Andy Urban

STANDARD: Wie bewerten Sie den Umgang mit Ex-Trainer Goran Djuricin? Das war eine Leidensgeschichte, oder?

Pelczar: Das war teilweise menschenverachtend. Ich habe mit ihm oft darüber gesprochen. Im übertragenen Sinne haben dieselben Leute, die am Palmsonntag Hurra geschrien haben, ihn dann am Karfreitag gekreuzigt. Es ist öffentlich und in den sozialen Medien passiert. Djuricin hat sehr gelitten. Denn ich weiß, dass er ein offenes und liebendes Herz hat. Durch den Vertrauensverlust ist ihm etwas Wichtiges abhandengekommen: die verständnisvolle Liebe.

STANDARD: Muss Rapid daraus etwas lernen?

Pelczar: Absolut, das sind Lektionen. Jeder Tag ist eine Lektion.

STANDARD: Es ist ein globaler Trend, dass sich Fußballer nach einem Tor bekreuzigen, die Arme in den Himmel recken. Lionel Messi ist ein ganz prominentes Beispiel. Sollte Glaube nicht etwas Intimes und keine Show sein?

Pelczar: Durch den äußeren Druck, den Stress, haben Fußballer eine engere Beziehung zu Gott als andere. Sie suchen nach etwas, was ihnen Halt gibt, nach einem Anker. Ein Fußballspiel ist etwas Überdimensionales. Ich glaube Messi, dass es keine Show ist, sondern aus dem Inneren kommt. Was ihm im Moment am wichtigsten ist, zeigt er: Dankbarkeit.

STANDARD: Böse Zungen behaupten, bei Rapid hilft nicht einmal mehr beten. Beten Sie vor Spielen?

Pelczar: Ja, eine Stunde lang. Ich bin zwei Stunden im Andachtsraum, Spieler schauen vorbei, zünden Kerzerln an. Glaube kann Berge versetzen. Ich bete intensiv, es ist das Gebet des Herzens.

STANDARD: Betgeheimnis gibt es ja keines. Wünschen Sie sich vom lieben Gott tatsächlich drei Punkte?

Pelczar: Nein, natürlich nicht. Gott ist keine Lotto-Annahmestelle, wo ich den Zettel abgebe und um einen Sechser ersuche – und als Gegenleistung faste ich die nächsten Tage, was mir persönlich guttun würde. Ich wünsche mir, dass alle gesund bleiben, die Stimmung passt. Im Duell mit St. Pölten trafen die Ljubicic-Brüder aufeinander, zwei sehr gläubige Persönlichkeiten. Beide haben vor dem Anpfiff gebetet. Sagt der eine, St. Pölten braucht die drei Punkte, und der andere, Rapid, steckt Gott im Dilemma. Was soll er machen? Ein Unentschieden? Das schafft er nicht.

STANDARD: Schafft Trainer Dietmar Kühbauer den Turnaround?

Pelczar: Sicher. Es heißt ja Glaube, Liebe, Didi. (Christian Hackl, 6.10.2018)