Das Jahr 1918 hat nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch für Kunst und Kultur entscheidende Veränderungen gebracht. So wurden nach dem Zusammenbruch der Monarchie die Kunstgüter und kulturellen Institutionen, die der höfischen Verwaltung unterstanden waren, vorerst gewissermaßen als Konkursmasse in die staatliche Verwaltung übernommen. Dazu zählten neben Hofbibliothek, Gemäldesammlung, den Schlössern und höfischen Gärten auch die beiden Hoftheater Burgtheater und Oper.

Vom k. k. Hof-Burgtheater zum Burgtheater

Die Rahmenbedingungen einer endgültigen staatlichen Übernahme der Theater wurden im rechtlichen Vakuum bis zum Abschluss des Friedensvertrags 1919 immer wieder diskutiert. Dabei standen auf einer Seite das Bestreben, dem jungen Staat einen einzigartigen und über Jahrhunderte gebildeten Kunstschatz zu erhalten, auf der anderen Seite hohe Ausgaben und der Wille, diese Kulturgüter in der Republik einem größeren Bevölkerungskreis zugänglich zu machen. Die dazu eingenommenen Haltungen geben Aufschluss über die Rolle und Bedeutung, die dem Burgtheater für die österreichische Identität zugeschrieben wurde. Das ist zumindest die Hypothese, die meine Kolleginnen Elisabeth Großegger, Michaela Kuklová und ich in einem aktuellen Forschungsprojekt verfolgen. Denn bisher hat man sich kaum mit der Frage auseinandergesetzt, was sich die Regierung von der Übernahme des Theaters versprach, welche Bedeutung sie dem Burgtheater für die Konstituierung des neuen Staates zuschrieb und welchen Einfluss die Feuilletonbeiträge der Wiener Zeitungen dabei hatten.

Konservatives statt modernes Programm

Mit dem Ende der Monarchie änderte sich nämlich nicht nur die Verwaltungsstruktur des Burgtheaters, auch die Aufgaben des Theaters mussten nun neu definiert werden. In Berlin beispielsweise hat das Ende der Monarchie zu einer radikalen programmatischen Richtungsänderung am Wilhelminischen Hoftheater geführt: Der neue Direktor Leopold Jessner, ein bekennender Sozialdemokrat, verstand das nun Preußische Staatstheater genannte Haus explizit als ein "Theater für die Republik".

In Wien hingegen berief man sich auf die Tradition als "bestes deutschsprachiges Theater" – ein Mythos der seit den 1880er-Jahren wichtig geworden war, als das traditionsreiche Wien in der Städtekonkurrenz mit dem aufstrebenden Berlin besonders am Sektor des Theaters konkurrenzierte. Dieses Selbstbild bot in der neuen Situation einen Orientierungsrahmen für das Selbstverständnis der österreichischen Bevölkerung im Allgemeinen und des Bildungsbürgertums im Besonderen. Erst in den Folgejahren wurden auch Forderungen der Moderne gegen diese konservative Haltung in die Diskussion gebracht. Nichtsdestotrotz standen ab den 1925er-Jahren historische Dramen, in denen Habsburger Protagonisten waren, hoch in der Publikumsgunst.

Eine Frage der Identität

Die Selbstdarstellung der Gesellschaft am Theater ist zugleich immer auch an der Konstruktion ihrer vermeintlich vorgängigen und feststehenden kollektiven Identität beteiligt. Theater ist daher nicht bloß ein Spiegel der Gesellschaft, sondern konstruiert diese aktiv mit. Dass die dabei an das Burgtheater herangetragenen Vorstellungen und Forderungen nach dem Ende der Monarchie sehr vielfältig und einander teilweise widersprechend waren, zeigt eine Diskussion des Verbandes für Theaterkultur, die im März 1919 die Zukunft der "Nationaltheater" zum Inhalt hatte.

Ansichtskarte des k. k. Hof-Burgtheaters aus der Zeit um 1915.
Foto: AKON/Österreichische Nationalbibliothek

Die einzelnen Redner und Rednerinnen traten dabei nacheinander für eine "Volksbühne nach Berliner Muster" ein, unterstrichen die "Forderungen ... [der] christliche[n] Bevölkerung an die künftigen Nationaltheater", stellten den Anschluss an Deutschland als "eine unbedingte Notwendigkeit" "für die Entwicklung der deutschösterreichischen Nationaltheater" dar, oder wandten sich gegen die kapitalistische Beeinflussung des Theaters durch private Kunstmäzene ("Neues Wiener Tagblatt" vom 17. März 1919)

Man sieht hier also mindestens drei unterschiedliche Entwürfe österreichischer Identität vertreten: eine sozialdemokratische, die die Unterschiede zwischen den verschiedenen Klassen der Bevölkerung auch mit Hilfe des Theaters aufheben will; eine christlich/katholische, die die Rolle der Religion für die österreichische Identität betont; und eine deutschnationale, die "österreichisch" mit "deutsch" gleichsetzt und dies nicht nur kulturell, sondern auch politisch/strukturell versteht. Dass das Theater unmöglich all diesen Forderungen zugleich gerecht werden kann, versteht sich von selbst. Die Untersuchung einzelner Inszenierungen und Kritikerreaktionen in unserem Forschungsprojekt soll nun Aufschluss darüber geben, inwieweit eine Annäherung an die unterschiedlichen Ansprüche unternommen wurde – und damit auch Antworten auf die Frage liefern, wie das Burgtheater die Identität der Ersten Republik mitbestimmte. Eines lässt sich dabei bereits jetzt sagen: Eindeutig und unumstritten war die Rolle des Burgtheaters nie. (Katharina Wessely, 12.10.2018)