Generell gibt es heute in den Sozialwissenschaften breite Übereinstimmung dahingehend, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung bzw. die soziokulturelle Evolution insgesamt als ein Prozess der zunehmenden Differenzierung vollzieht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit lässt sich dies sogar ganz allgemein für soziale Systeme sagen.

Diese zunehmende Differenzierung bringt für Systeme Vorteile als auch Nachteile, wie zum Beispiel höhere Leistungsfähigkeit durch Spezialisierung bei gleichzeitig neuen Anforderungen an die interne Koordination. Vor allem aber gehen damit neue Herausforderungen für soziale Systeme ihr Verhältnis zur Umwelt betreffend einher: Ihre "Viabilität", wie Gregory Bateson die Überlebensfähigkeit in einer ökologischen Nische bezeichnet hat, basiert jetzt – und das ist eine der zentralen Einsichten aus der Kybernetik – auf ausreichender "requisite variety" (W. R. Ashby), also auf angemessener, durch interne Differenzierung erzeugter Komplexität, als Antwort auf die externe Komplexität, die mit zunehmender Differenzierung der Umwelt einhergeht.

Demgegenüber scheint es heute in Mode zu sein – sei es aus Angst oder mit antidiskriminierender Absicht -, möglichst ohne Differenzierungen, also ohne Unterscheidungen, das Auslangen zu finden bzw. diese zugunsten eines wenig differenzierten Moralismus zu reduzieren. Man denke an Diskussionen über Migration, Bildung oder Geschlechterverhältnisse, in denen es nicht selten als unerwünscht bzw. unzulässig gilt, unterschiedliche Motive und Gründe des Handelns in Rechnung zu stellen – wenngleich dies nur begrenzt funktioniert und in der Realität nolens volens die eine oder andere Differenz doch (noch) akzeptiert bzw. der eine oder andere Unterschied doch (noch) gemacht werden muss.

Nation und Nationalstaat

Man denke auch an Debatten über das Verhältnis von Nationalstaat und EU, wo gegen nationale Grenzen in Europa polemisiert, aber gleichzeitig das europäische Konstrukt im globalen Kontext idealisiert wird und wo Staat, Nation und Nationalstaat unterschiedslos verwendet werden.

Den aktuellen Diskurs dominiert dabei über weite Strecken ein nachgerade trivialer Moralismus auf Basis der Differenz von gut und schlecht. Man denke dabei nur an angeblich gute und schlechte Grenzziehungen (Eu-ropa und Nationalstaat) oder – allgemeiner – an angeblich gute und schlechte Unterscheidungen (Zivilgesellschaft/Rechtspopulisten und Neoliberale/Gutmenschen). Außerdem geht all dies einher mit der im Hintergrund stets mitlaufenden Hoffnung, man könne irgendwann ganz ohne Grenzen und Differenzen auskommen. Damit ist jedoch Enttäuschung geradezu programmiert: Einerseits aus schlicht logischen Gründen, wie der Mathematiker George Spencer-Brown in seinem Buch "Gesetze der Form" gezeigt hat, bzw. weil es, so der Soziologe Niklas Luhmann in einem Interview zu diesem Thema, den unterscheidungslosen Zustand nur im Paradies (und auch dort nur bis zum Genuss der verbotenen Frucht!) geben kann. Andererseits droht Enttäuschung, weil die eingangs geschilderte, unaufhaltsam fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung die Vermutung nahelegt, dass in Zukunft eher mehr statt weniger Differenzierung vonnöten ist.

So sind Verzicht auf Differenzierung und Vorhaben zur Entdifferenzierung evolutionär gesehen regressive Phänomene. Sie laufen der soziokulturellen Entwicklung entgegen, erfordern viel Energie und provozieren die Frage, zu welchen neuen Formen der Differenzierung es unter der Oberfläche offizieller Nicht- und Entdifferenzierung kommt – gut zu beobachten im Schul- und Hochschulsystem, wo sich nach Abschaffung der Leistungsgruppen in der Neuen Mittelschule nun nicht explizit benannte Statusunterscheidungen stabilisieren, oder wo sich nach Angleichung akademischer Abschlüsse von Unis und FHs im Zuge von "Bologna" implizite Unterschiede hinsichtlich Prestige, Image etc. etablieren.

Antidiskriminierende Strategien

Dies zeigt, dass gutgemeinte, gegen etablierte Differenzierungsmechanismen gerichtete antidiskriminierende Strategien wie auch zum Beispiel die unterschiedslose Legitimierung von Migrationsmotiven dann nicht selten zu noch schwerer sichtbaren, noch schwerer in den Griff zu bekommenden Differenzierungen führen – wie beispielsweise von Mitleid und Mobilisierung abhängige Erfolgschancen außerhalb des rechtlichen Rahmens.

Wie es aussieht, sind wir seit der Vertreibung aus dem Paradies auf Unterscheidungen und deren Informationswert angewiesen. Ein "Lob der Unterscheidung" sollte an dieser Stelle jedoch nicht kurzerhand mit einem Lob der hierarchischen Unterscheidung gleichgesetzt werden. Immerhin liegt in der reinen Logik der Unterscheidung und in der damit entstehenden Asymmetrie zwar eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichende Bedingung für Hierarchie, mithin keine Begründung für die "Gleichursprünglichkeit" von Differenz und Hierarchie. Wenn daher eine Differenz aus Sicht der sie umgebenden sozialen Strukturen mit einer hierarchischen Bewertung einhergeht, so ist der Tadel wohl vorrangig an die gesellschaftliche Hierarchie, der diese Bewertung entspringt, zu adressieren, und nicht an die Unterscheidung selbst. (Paul Reinbacher, 10.10.2018)