"Wien hat sich verändert, seit ich hergezogen bin", sagt die Choreografin Amanda Piña. Die Einwohner sind vielfältiger geworden. "Ich sehe gern schwarze Menschen auf der Straße." Seit Mitte der Nullerjahre lebt die 1978 in Santiago de Chile Geborene in der österreichischen Hauptstadt. Heute zählt sie zu den Protagonistinnen der freien Tanzszene. In der Halle G des Tanzquartiers Wien präsentiert sie jetzt ihr jüngstes Werk, Danza y Frontera ("Tanz und Grenze").

Beim Gespräch in einem der Tanzquartier-Studios plagen sie Zweifel. Wie wird die Arbeit "von innen" heraus funktionieren, wie soll sie "von außen" zu lesen sein? Und was macht etwa ein schwarzer Gazevorhang zwischen den Performern und dem Publikum aus? Piña wirkt blass, angespannt. Dann ein Lächeln, als sie weiter von der wachsenden Diversität Wiens spricht: "Die Stadt passt sich gewissermaßen an mich an."

Stundenlang im Hörsaal sitzen, das war nichts für Amanda Piña. Also schmiss sie das Studium und besuchte Tanzklassen. Resultat? Etwa die Produktion: "Four remarks on the history of dance" (2015).
Foto: Kat Reynolds

Ein Bundespräsident als Performer

Sogar den Ex-Bundespräsidenten hat Piña zu einem ihrer Performer gemacht. Nachdem sie und Daniel Zimmermann 2009 ein "Bundesministerium für Bewegungsangelegenheiten (BmfB)" gegründet hatten, ließ sich auch Heinz Fischer in seinen damaligen Amtsräumlichkeiten von Piña choreografieren. Schüchternheit kennt sie nicht, im Gegenteil. Temperament und Toughness gehören zu ihrem Charakter.

Das hat auch biografische Gründe. Im zarten Alter von fünf Jahren musste sie ohne erwachsene Begleitung zwischen den Wohnorten der Mutter in Chile und des Vaters in Mexiko hin- und herreisen. Da zu dieser Zeit die beiden Länder – in Chile herrschte noch Augusto Pinochet – keine diplomatischen Beziehungen miteinander unterhielten, bedeutete das auch: keine Direktflüge. Also ging es kompliziert über Montevideo, Buenos Aires und Miami. Das Gute an den beiden Wohnorten: "So habe ich die Codes beider Kulturen kennengelernt und gelebt."

Foto: nadaproductions

Bedrohte Bewegungen

In Santiago besuchte Piña während der Phase des Übergangs zur Demokratie eine Theaterschule. "Ich hatte den Traum, Künstlerin zu sein und von der Kunst zu leben." In Chile, wo es keine staatliche Kunstförderung gab, schien das unmöglich zu sein. Also ging Piña nach Mexiko und studierte Anthropologie, aber das war nichts für sie. Sie besuchte Tanzklassen, reiste zu Studienzwecken nach Barcelona und landete schließlich in Salzburg an der Tanzakademie Sead. Der Übergang von Barcelona nach Salzburg sei hart gewesen. "Wäre der Tanz nicht gewesen, hätte ich mich umgebracht."

Amanda Piñas erste eigene Arbeit entwickelte sie in Montpellier unter den Fittichen der berühmten Choreografin Mathilde Monnier. Ein Teil ihres Traums war Wirklichkeit geworden. Der zweite erfüllte sich in Wien. Nach Stipendien bei Impulstanz und im Tanzquartier machte sie 2006 im Brut-Theater mit We auf sich aufmerksam. 2009 gründete sie den Kunstraum Nadalokal in Rudolfsheim-Fünfhaus und startete jene Werklinie, an der sie bis heute arbeitet: Endangered Human Movements.

Foto: nadaproductions

Koloniale Machtmatrix

Das Großprojekt (Stücke, Videos, Publikationen) soll den Europäern vermitteln, dass deren "Moderne" und Definition dessen, was zeitgenössisch zu sein hat, nicht mehr die alleingültige Perspektive ist. "Migrantin zu sein ist eine interessante Position, um künstlerisch zu arbeiten. Aber ich fühle mich nicht verpflichtet, über Kolonialismus zu reflektieren. Es ist einfach meine Agenda." Daher arbeitet Piña mit Tänzen, die weder im Zusammenhang mit der Moderne stehen noch aus der "kolonialen Machtmatrix" kommen. So werden marginalisierte historische Entwicklungen im Tanz sichtbar.

Piñas ausgefeilte Stücke touren, was hierzulande übersehen wird, bereits seit zehn Jahren durch Europa. Sie können als Teil einer neuen Aufklärung gesehen werden. Ohne diese, so Piña, kann auf dem Alten Kontinent "das Spezifische der Geschichte und Zeitgenossenschaften an anderen Orten der Welt nicht erkannt" werden. (Helmut Ploebst, 11.10.2018)