Die allererste Ausgabe des STANDARD war nicht die erste Ausgabe, die am 19. Oktober 1988 erschienen ist, sondern jene, die ein paar Wochen zuvor am 23. September nicht erschienen ist. Es war die Nullnummer, jene, die mit 001a nummeriert war. Es war die allererste Ausgabe des STANDARD, die – in geringer Zahl – gedruckt wurde. Ein Übungsexemplar. Dieses verbesserten wir in den nächsten Tagen mit 001b und 001c noch zweimal, ehe wir mit 002 die zweite Nullnummer wagten.

Die Story für Weihnachten: Ferdinand Bauer war der letzte Hutschpferderzeuger Wiens, vielleicht sogar Europas. In seiner Werkstatt in Währing lieferten wir uns noch eine wilde Verfolgungsjagd, ehe er schließlich zusperrte.
Foto: Matthias Cremer

In dieser allerersten Ausgabe war ich mit einer Geschichte vertreten. Es ging um das Velosolex, ein Fahrrad mit Hilfsmotor, dessen Produktion eingestellt wurde. Matthias Cremer fotografierte. Im damals noch nicht ausgebauten Museumsquartier in Wien trafen wir den Stadtökologen Bernd Lötsch, der ein solches Exemplar besaß, es war ihm von Friedensreich Hundertwasser geschenkt worden.

Vor 25 Jahren: Das Gründungsteam von DER STANDARD zieht in die ersten Räumlichkeiten rund um Maria am Gestade im ersten Bezirk ein. Der Archivfilm stammt der Überlieferung zufolge von Werbefilmer Max Vrecer. Überarbeitung: Maria von Usslar.
DER STANDARD

Während ich als Autor natürlich meinen Namen über die Geschichte schrieb, vergaß ich bei der Bildunterschrift auf den Fotocredit. Cremers allererstes Foto im STANDARD erschien also ohne Nennung seines Namens. Das trägt er mir bis heute nach. Er hält mir übrigens auch vor, dass ich versprochen hatte, ihm ein Exemplar ebendieser ersten Nullnummer aufzuheben, da er beim Erscheinen dieser nicht in Wien war. Auch darauf vergaß ich.

In dem Video, das zur Gründung des STANDARD auf den Stiegen der ersten Redaktionsadresse Maria am Gestade in der Wiener Innenstadt gedreht wurde, ist Cremer übrigens auch nicht zu sehen. Er war ausgerechnet zum Dreh des Videos, das die Gründungsmannschaft in der ersten Arbeitseuphorie zeigt, zu einem Fototermin eingeteilt worden. Nicht von mir. Ich bin im Video übrigens gut zu sehen, ganz jung noch.

Das Ressort war voll

Die Seite, auf der der Velosolex-Artikel erschien, war mit "Magazin" überschrieben, im Unterschied zu "Politik", "Kultur" und "Wirtschaft". Mehr Ressorts gab es damals nicht. Für den Rest war ich zuständig: Das "Magazin" war ein Sammelsurium aus Sport, Mode, Kriminalität und Leben, täglich eine Seite, manchmal zwei.

Beworben hatte ich mich eigentlich für die Innenpolitik, in der ich erst viele Jahre später landen sollte. Damals war das Ressort aber schon voll. Peter Sichrovsky, der das Bewerbungsgespräch mit mir führte (noch in der Prinz-Eugen-Straße), bot mir einen Job in der Kultur an. Als ich ablehnte, erzählte er mir von einer "vermischten Seite". Ob ich mir das zutraute, diese täglich zu füllen? Ich traute es mir nicht zu, sagte aber zu. Chefredakteur Gerfried Sperl räumte mir anschließend meine Gehaltswünsche runter, und es wurde doch noch eine gute Zeit.

Matthias Cremer 1991 mit Latzhose und Zigarette in einem Bingo-Salon in Budapest. Nach den mühevollen und gefährlichen Recherchen gab es ein Bier, die Reportage erschien international.
Foto: Michael Völker

Damals zeichnete bereits Oliver Schopf die Karikaturen. Aus der Anfangsmannschaft vom September 1988 sind heute noch fünf Leute beim STANDARD tätig: Cremer, Schopf, Thomas Mayer (derzeit Korrespondent in Brüssel), ich – und natürlich Oscar Bronner, der Gründer und Herausgeber.

Die Seite "Magazin" überlebte nicht lange, denn es stellte sich bald heraus, dass DER STANDARD eine komplette Zeitung sein wollte, und als solche brauchte es ein eigenes Sportressort. Da gab es eine überraschend starke Nachfrage. Spätestens mit der Mordserie im Krankenhaus Lainz wurde klar, dass es auch ein eigenes Chronikressort bräuchte, mit Leuten, die regelmäßig zu Gericht gingen, wie Daniel Glattauer, die sich um das Rathaus kümmerten, wie Petra Stuiber und Roman Freihsl, oder die bei Hausbesetzungen dabei waren und regelmäßig bei der Polizei anriefen, wie ich.

Ich sah meine erste Leiche, eigentlich war es nur ein Kopf, und der lag in einer Auslage. Ich wurde bei der Opernball-Demo von der Polizei verprügelt, obwohl mich das unfassbar große ausgeliehene "Mobiltelefon" zweifelsfrei als Reporter auswies.

Bedrückender Skandal

Ich deckte einen Skandal auf, der mich heute noch bedrückt, wenn ich daran denke: Karo, ein drogensüchtiges Mädchen, das sich am Karlsplatz herumtrieb, war im dortigen Wachzimmer von zwei Polizisten vergewaltigt worden. Ein dritter Beamter schaute zu – oder weg. Die einhellige Meinung aller, die ich kontaktierte, lautete: Das ließe sich niemals beweisen. Ich hatte nur das Mädchen, ihre Schilderung und ihre Angst. Aber ich wandte mich an einen Polizeibeamten, vor dem ich heute noch den größten Respekt habe, der kniete sich auch gegen den Widerstand des Korps in die Sache hinein, bis es Geständnisse gab und schlussendlich Verurteilungen, wenn auch mit äußerst milden Strafen. Aber Karo wurde nie wieder dieselbe. Sie brachte sich schließlich um.

Die schönen und die beiläufigen Geschichten gab es auch. Etwa die Reportage über Ferdinand Bauer, den letzten Hutschpferderzeuger von Wien, eine Geschichte, die zu Weihnachten 1989 gut ins Blatt passte. Cremer fotografierte. Bauers Großvater hatte 1893 mit der Werkstatt begonnen, die Herstellung der Schaukelpferde war aufwendig. Als ab den 70er-Jahren die Konkurrenz der Plastikschaukelpferde übermächtig wurde, war dieses Geschäft kaum noch lohnend. Wir ritten noch eine kleine Verfolgungsjagd in der Werkstatt, ehe sich Herr Bauer einen Job als Museumswärter suchte und zusperrte.

Schlepper und Bingo

Cremer und ich suchten die Geschichten aber nicht nur im Kleinen, wir fanden sie auch im Großen. Die "Völkerwanderung" führte uns bereits 1991 nach Budapest zum Keleti-Bahnhof, Wartesaal für Flüchtlinge und Umschlagplatz für Schlepper. Für die einen war dort Endstation, für andere der Umstieg in eine bessere Zukunft. Wie man sieht, haben sich die Themen kaum geändert. Die Reportage über das "Tor zum Westen" erschien im Rahmen eines World-Media-Projektes auch in "Le Monde", "Liberation" und "La Repubblica". Cremer und ich gingen nach den Recherchen in Budapest in einen Bingo-Salon, tranken dort ein Bier, spielten Bingo und gewannen zwar kein Vermögen, spielten aber immerhin unsere Reisekosten wieder herein.

Eine Reportage für den STANDARD: der Keleti-Bahnhof in Budapest, das Tor zum Westen oder der Wartesaal zu ebendiesem. 1991 stauten sich hier wieder einmal Flüchtlinge, für Schlepper auch damals ein profitabler Geschäftszweig.
Foto: Matthias Cremer

DER STANDARD veränderte sich laufend. Wir gewannen an Farbe und veröffentlichten nicht mehr ausschließlich schwarz-weiß, was auch Cremer als Chance begriff. Wir erfanden das Internet, sortierten dort erst unser Archiv und publizierten ab 1995 mit einer eigenen Redaktion regelmäßig derStandard.at, das erste Nachrichtenportal im deutschsprachigen Raum. Die Teams von Print und Online sind mittlerweile zusammengeführt – und fast schon unzertrennlich.

Oscar Bronner hält keine Ansprachen mehr bei unseren Weihnachtsfeiern, er steht dabei nicht mehr auf der Anrichte mitten im Buffet mit der kalten Platte zwischen Salami, Schinken und Gurkerln. Ich finde das schade, auch wenn die jetzigen Feiern Events und professionell organisiert und die Buffets Weltklasse sind – so wie die Arbeit und die Zeitung viel professioneller geworden sind, was zweifellos ein großer Fortschritt ist. Aber es ist schon viel zu lange niemand mehr bei der Weihnachtsfeier am Luster schaukelnd von diesem abgestürzt, das muss auch gesagt werden. (Das wurde übrigens nicht als Arbeitsunfall im engeren Sinn gewertet.)

Im Gang vor der Kultur

Ich sitze mittlerweile nicht mehr im Gang vor dem Kulturressort, wie das in den allerersten Tagen in Maria am Gestade der Fall war. Es ist mein viertes STANDARD-Gebäude, wir sind jetzt in der Vorderen Zollamtsstraße in Wien-Landstraße, ich sitze in einem Großraumbüro mit 70 Leuten (gefühlt sind es 170), und manchmal denke ich melancholisch an meinen ersten Schreibtisch zurück.

Damals schon, das war noch im ersten Jahr, kam regelmäßig Christian "Gigi" Hackl, weltbester Sportreporter, vorbei und erzählte dreimal hintereinander voller Inbrunst den gleichen schlechten Witz. Das tut er heute noch, manche Dinge ändern sich eben nie. (Michael Völker, 18.10.2018)