Wir fragten Stefan Sagmeister, warum Sonnenuntergänge als kitschig gelten, was Schönheit überhaupt ist und warum die Farbe Blau besser als Braun ankommt.

Jessica Walsh und Stefan Sagmeister führen seit 2012 die Agentur Sagmeister & Walsh.
Foto: Sagmeister & Walsh

STANDARD: Haben Sie heute schon etwas Schönes gesehen?

Stefan Sagmeister: Ja! Ich habe aus dem Fenster geschaut und die Skyline von New York im herbstlichen Halbnebel gesehen. Die obersten Stockwerke des Empire State Building verschwanden in einer dichten Wolkendecke. Das war schön.

STANDARD: Manche Menschen finden weder Wolkenkratzer noch Nebel schön. Gibt es eine einigermaßen objektive Definition von Schönheit?

Sagmeister: Aber ja, die Definition lautet einfach. Schönheit besteht in der Kombination von Gestalt, Farbe, Materialität, Komposition und einer Form, die unsere ästhetischen Sinne anspricht, speziell unser Sehen. Viele von uns empfinden als schön, was wir gut kennen. Außerdem spielt der Kontext eine große Rolle: Je sicherer wir uns fühlen, desto mehr empfinden wir neue, überraschende Dinge als schön.

STANDARD: Farben sind weniger überraschend, wir kennen sie seit unserer Kindheit. Warum gilt laut vielen Umfragen Blau als schöner als Braun?

Sagmeister: Der Grund dafür liegt vielleicht in unserer Evolution: Für unsere steinzeitlichen Vorfahren signalisierten ein blauer Himmel und ein blaues Meer gutes Wetter – und damit Sicherheit.

Mak-Säulenhalle, Sagmeister & Walsh: Beauty
Bildmitte: Nils Völker, Two Hundred and Seventy, 2018
Foto:© MAK/Aslan Kudrnofsky

STANDARD: Es heißt, die Form der Kugel werde als anziehender empfunden als die des Würfels. Warum?

Sagmeister: Eine Untersuchung des Wiener Psychologen und Ästhetikforschers Helmut Leder hat ergeben, dass die Mehrheit der Menschen Symmetrie bevorzugt. Die Kugel ist der ultimative symmetrische Körper. Außerdem kann man sich an runden Dingen weniger leicht verletzten als an eckigen, das heißt, sie sind weniger gefährlich.

STANDARD: Apropos Eigenschaften: Wie viel Schönheit verträgt Funktion? Oder sollte die Frage umgekehrt lauten?

Sagmeister: Funktion verträgt massenweise Schönheit! Die Funktion wird durch die Schönheit viel funktionaler! Gut gestaltete Wohnblöcke zum Beispiel werden menschlicher, das heißt, Menschen wollen darin wohnen, wenn sie schön sind. Schöne Dinge sind auch nachhaltiger, weil sie sorgsamer behandelt werden. Außerdem werden sie eher repariert als hässliche.

STANDARD: Das heißt, der Satz "Form follows function" sollte durch den Zusatz "and beauty" ergänzt werden.

Sagmeister: Durchaus! Der Ausspruch "Form follows function" stammt vom amerikanischen Architekten Louis Sullivan. Wenn man seine Arbeit betrachtet, zum Beispiel das Eingangsportal zum Carson-Pirie-Scott-Department-Store in Chicago, dann wird sehr schnell klar, dass seine Form keinerlei Funktion folgt. Sie ist verziert, verspielt, ornamental.

STANDARD: Das Bauhaus sagt: Schön ist, was funktioniert.

Sagmeister: Jessica und ich glauben nicht, dass das so stimmt: Eine Autobahnabfahrt funktioniert wunderbar, sie verfügt über die ideale Kurvatur, um eine Schnellstraße zu verlassen, aber schön ist sie nicht. Darüber sind sich die meisten Menschen einig, darum verbringt dort auch niemand seinen Urlaub. Und darum gibt es auch keine Hotels unter Autobahnabfahrten. Das könnte sich ändern, wenn man eine solche Abfahrt mit Liebe und Sorgfalt gestalten würde.

Sagmeister & Walsh: Beauty
Sagmeister & Walsh, Color Room, 2018
In Kooperation mit Backhausen
Mak Design Labor
Foto:© MAK/Aslan Kudrnofsky

STANDARD: Ab welchem Punkt wird Schönheit als etwas Oberflächliches empfunden?

Sagmeister: Wenn etwas kitschig wird. Wenn wir etwas so oft gesehen haben, dass es unehrlich erscheint, empfinden wir es als Kitsch.

STANDARD: Zum Beispiel?

Sagmeister: Sonnenuntergänge am Palmenstrand.

STANDARD: Das Ganze hat also mit eingeprägten Bildern zu tun?

Sagmeister: Ja. Jemand, der zum ersten Mal Katzenbabys auf rosarotem Hintergrund sieht, empfindet dieses Bild nicht als kitschig.

STANDARD: Kann man sich am Schönen sattsehen?

Sagmeister: Eine ausgezeichnete Frage. Leider wissen wir die Antwort darauf noch nicht. Aber das wäre ein interessantes Thema für die Forschung. Genauso wie die, ob wir uns an das Hässliche gewöhnen.

STANDARD: Ist Hässlichkeit das Gegenteil von Schönheit oder etwas ganz anderes?

Sagmeister: Wir können die Schönheit auch als "formale Intention" beschreiben, dazu kann auch das Hässliche gehören. Wir mögen manchmal auch das gewollt Hässliche gern.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Sagmeister: Nehmen wir zum Beispiel ein modisches Ensemble her, bei dem sich die Farben schlagen, bei dem Muster absichtlich nicht zusammenpassen. Trotz all dem kann es ein interessantes Bild ergeben.

STANDARD: Der aus Südkorea stammende Philosoph Byung-Chul Han schrieb in seinem Buch "Die Errettung des Schönen", dass heute das Glatte die Signatur der Gegenwart sei. Es verbinde Skulpturen von Jeff Koons, iPhone und Brazilian Waxing miteinander. Er meint, das Glatte würde nicht verletzen, es heische Likes (...), der glatte Gegenstand tilge sein Gegen. Geben Sie ihm recht?

Sagmeister: Der gute Byung-Chul Han hat sich als Akademiker über lange Zeit mit glatten Dingen beschäftigt, er ist dadurch dem Glatten überdrüssig geworden und lehnt es ab. Wir glauben, das trifft auf den "normalen" Menschen nicht zu. Man sieht das auch am unglaublichen Erfolg des iPhone. Jedes Smartphone ist heute entweder ein iPhone oder ein vom iPhone beeinflusstes Telefon. Als Designer sehen wir die kreative Kraft, die notwendig war, um das iPhone zu entwerfen als viel größer an, als die Kraft, die es benötigt, um es als "zu glatt" zu kritisieren. Jonathan Ives ist also der klügere Kopf.

Sagmeister & Walsh: Beauty
Mak-Säulenhalle
Foto: © MAK/Aslan Kudrnofsky

STANDARD: Die Idealbilder vom Schönen ändern sich immer wieder, gerade bei jungen Menschen ist ein gewisser Konformismus festzustellen. Was sagt uns das?

Sagmeister: Ich bin eigentlich ganz froh darüber, dass die jungen Menschen das Dogma der Überlegenheit des "kritischen Denkens" meiner Generation nicht kritiklos übernommen hat. Ich kann mich an den Ausspruch eines jungen holländischen Designers erinnern, der meinte: "Die Zeit, immer nur dagegen zu sein ist vorbei."

STANDARD: Dennoch scheinen sich Jugendliche heute optisch weniger zu unterscheiden als in vorigen Generationen.

Sagmeister: Ich sehe da keine großen Unterschiede. Ein gewisser Konformismus war Teil einer jeden Jugendbewegung, von den bestickten Jeans der Hippies bis hin zu den Sicherheitsnadeln der Punks.

STANDARD: Apropos Jugend: Wie beeinflusst Instagram das Bild vom "Schönen"?

Sagmeister: Im besten Fall werden Menschen mit ästhetischen Dingen konfrontiert und für das Schöne sensibilisiert. Im schlechtesten Fall fungiert etwas wie Instagram etc. als Initiator von Neid.

STANDARD: Bei Instagram geht es auch um Eitelkeiten. Würden Sie sich als schön bezeichnen?

Sagmeister: Hmmmm. Jessica und ich, wir beschäftigen uns vor allem mit der vom Menschen gemachten Schönheit, das heißt mit Dingen wie Design, Grafik, Stadtplanung und Architektur.

STANDARD: Oscar Wilde meinte: "Das Geheimnis des Lebens liegt im Suchen nach Schönheit." Lüften Sie in Ihrer Ausstellung "Beauty", die ab 24.10. im Mak zu sehen sein wird, dieses Geheimnis?

Sagmeister: Wir werden unser Bestes geben! Wir haben versucht, eine unterhaltsame Ausstellung zu gestalten, bei der man auch etwas lernen kann. Es gibt viel Interaktives zum Ausprobieren, einiges zum Staunen und hoffentlich viel Schönes.

STANDARD: Es gibt auch einen gemeinsam mit Swarovski gestalteten sogenannten Sensory-Room, indem über Stimulierung der Wahrnehmung eine Formel für Wohlbefinden erzeugt werden soll. Wie kann denn eine solche Formel aussehen?

Sagmeister: Es handelt sich dabei nicht um eine Formel, sondern ganz einfach um Ergebnisse von diversen Umfragen, die wir auf einen einzigen Raum konzentriert haben. Es gibt Umfragen zur schönsten Stimmung, zum schönsten Naturgeräusch, zum schönsten Geruch. Wir haben diese Ergebnisse in einem Sensory-Room wiederhergestellt, um herauszufinden, ob diese auch wirklich Wohlbefinden erzeugen können.

STANDARD: Und? Können sie?

Sagmeister: Das wissen wir nach der Ausstellung.

Stefan Sagmeister vor dem Sensory Room, der mit 26.551 Swarovski-Kristallen besetzt ist.
Foto: Swarovski/Marcella Ruiz-cruz

STANDARD: Was ist denn das schönste Naturgeräusch?

Sagmeister: In dieser Kategorie haben die Frösche gewonnen, und zwar jene aus dem malaiischen Urwald.

STANDARD: Und bei den Gerüchen?

Sagmeister: Da hatten die Zitrusfrüchte die Nase vorn.

STANDARD: Wenn Sie sich an Ihre Kindheit zurückerinnern, wann haben Sie einen Gegenstand zum ersten Mal als schön empfunden?

Sagmeister: Die Uhr, die ich von meinen Eltern zur Firmung bekommen hatte: eine Eterna Matic 1000. Heute finde ich sie nicht mehr so schön, weil ich in der Zwischenzeit tausende Uhren gesehen habe und sich mein Horizont erweiterte.

STANDARD: Zu guter Letzt: Was macht Schönheit mit uns?

Sagmeister: Wir fühlen uns in einer schönen Umgebung besser. Und wir benehmen uns anders.

STANDARD: Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Sagmeister: Ich selber gehe jeden Morgen auf der High Line in New York laufen und habe dort kaum je ein weggeworfenes Papier gesehen. 50 Meter von der High Line entfernt im benachbarten Meatpacking District liegt jede Menge Abfall in den Rinnsteinen, aber nicht auf der High Line. Die Sorgfalt, mit der die High Line gestaltet ist, verändert das Verhalten der Besucher. (Michael Hausenblas, Rondo, 23.10.2018)

Sagmeister & Walsh: Beauty
Sagmeister & Walsh, Sound Room, 2018
Mak Design Labor
Foto:© MAK/Aslan Kudrnofsky

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