Bis zu 7.000 Menschen protestierten zuletzt auf der wiederbelebten Donnerstagsdemo. Heute findet der Protestmarsch wieder statt.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie haben die österreichische Protestkultur der letzten 20 Jahre analysiert. Was waren die überraschendsten Ergebnisse?

Dolezal: Vielleicht dass im Zeitverlauf das Thema Umwelt am meisten bewegt hat. In den letzten Jahren hat es aber an Relevanz verloren. Zuletzt haben die Themen Asyl und Migration zugenommen, wobei hier interessant ist, dass es Proteste sowohl von links als auch von rechts gab. Das ist eher selten.

STANDARD: Es gibt ja das Klischee, Österreich habe eine vergleichsweise unterentwickelte Protestkultur. Stimmt das?

Dolezal: Das kann ich nicht bestätigen. Es ist wohl tatsächlich ein Klischee. In Österreich wird weder extrem wenig noch extrem viel demonstriert. International ist man im Durchschnitt. Im Vergleich mit Frankreich wird natürlich fast jedes andere Land wenig Protestkultur aufweisen, aber mit den USA, Deutschland und Großbritannien etwa liegt Österreich auf ähnlicher Linie.

STANDARD: Zu einer der größten Protestwellen des Landes führte die erste schwarz-blaue Bundesregierung von 2000. Warum konnten damals bis zu 300.000 Menschen mobilisiert werden?

Dolezal: Das Ausmaß der Mobilisierung war 2000 und die zwei Jahre danach sicherlich außergewöhnlich. Gerade am Beginn gab es den Aufschrei, dass eine FPÖ unter Haider überhaupt regieren darf. Dann gab es den Tabubruch beim Zustandekommen der Regierung – der Dritte wurde zum Ersten gemacht. Und es gab den Aufschrei in Europa: Österreich als Paradefall einer neuen Entwicklung. All das ist 20 Jahre später ganz anders gelaufen.

STANDARD: Ist das der Grund, warum der Protest gegen die Neuauflage von Schwarz-Blau bislang eher diffus ist?

Dolezal: Ich denke, ja. Die allgemeine Empörung gegen diese Regierung ist nicht so zu spüren. Man kann wohl davon ausgehen, dass in Konsequenz der Flüchtlingskrise in der Bevölkerung insgesamt ein Ruck nach rechts stattgefunden hat. Das erschwert die Mobilisierung.

STANDARD: Spielt die Ohnmachtserfahrung von damals eine Rolle? Man hat demonstriert und steht 20 Jahre später wieder am Anfang?

Dolezal: Zielerreichung ist sehr relevant, wenn es um Mobilisierung geht. Wenn relativ unrealistische Ziele verfolgt werden, wie die Ablöse der gesamten Regierung, dann ist es schwierig, den Protest aufrechtzuerhalten. Mit der Konzentration auf kleinere Ziele würde das wohl besser gelingen.

STANDARD: Protest ist also umso wirkungsvoller, je zielgerichteter er stattfindet? Etwa gegen ein einzelnes Regierungsmitglied oder ein bestimmtes Gesetzesvorhaben?

Dolezal: Kleine Ziele sind leichter zu erreichen als große. Man kann sicher bestimmte Politikinhalte durch Massenmobilisierung beeinflussen, aber schon 2000 hat man gesehen, dass die Forderung nach einer generellen Ablöse der Regierung sogar eher zu einem stärkeren Zusammenhalt derselben führen kann.

STANDARD: Mit den wiederbelebten Donnerstagsdemos wird der Mythos von damals beschworen. Aber müsste eine veränderte politische Situation nicht gänzlich neue Protestformen hervorbringen?

Dolezal: Ich bin kein Berater der Demonstrierenden, aber grundsätzlich muss ich sagen, dass es wahrscheinlich keine schlechte Idee ist, mit den Donnerstagsdemos einen Begriff, der schon etabliert ist, wiederaufzugreifen. Protestformen wie Demos, Sit-ins, Teach-ins sind lange tradiert und werden immer neu mit Inhalt gefüllt.

STANDARD: Im Gegensatz zu 2000 organisiert sich Protest heute vielfach über das Internet. Aber nimmt das Netz auch Empörungspotenzial weg? Nach dem Motto: Wozu demonstrieren, wenn ich poste?

Dolezal: Im Jahr 2000 gab es noch keine sozialen Medien, das ist sicher ein großer Unterschied zu damals. Wir können sagen, dass sich diese Netze erst einmal hervorragend dazu eignen, Protest zu organisieren. Dass sie auch dazu führen können, dass sich Protest auf "Klicktivismus" reduziert, diese Gefahr wird gesehen. In der Forschung gibt es dazu derzeit viele Untersuchungen, aber kein abschließendes Ergebnis. Sicher ist: Online fehlt der zwischenmenschliche Kontakt, so etwas wie Gruppenbildung und Zusammenhalt ist da schwierig.

STANDARD: 2009 breitete sich die Bewegung "Unibrennt" von Wien über ganz Europa aus. Ein Beispiel für ein funktionierendes Scharnier zwischen On- und Offlineprotest?

Dolezal: "Unibrennt" hatte sicherlich Vorreitercharakter in Bezug auf Mobilisierung durch Social Media. Sie war in Europa eine der ersten Bewegungen dieser Art. Interessant war hier auch die Zielfrage: Zunächst ging es um konkreten Protest gegen die Zustände auf den Universitäten – hier war die Mobilisierung am größten. In der Folge hat sich dann die Zielsetzung immer weiter verallgemeinert, und am Ende ging es quasi um die Rettung der Welt. Da hat sich der Protest dann zusehends verlaufen. Es war dann unklar, worum es überhaupt gehen soll. Es wurden damals Hörsäle besetzt, 2011 bei Occupy Wall Street ging es um die Besetzung öffentlicher Plätze.

STANDARD: Sind Besetzungen effektive Protestformen?

Dolezal: Was die Hörsäle betrifft, muss man sagen, dass das die Gesamtbevölkerung damals so gut wie nicht gekümmert hat. Bei Occupy war das anders, man ist in den öffentlichen Raum, Parks, Plätze gegangen, der de facto allen gehört. Der Protest ist viel sichtbarer, und er führt meist zu einer viel repressiveren Reaktion der Staatsgewalt.

STANDARD: Kann man sagen, Protest hat schon Erfolg, wenn er medial wahrgenommen wird?

Dolezal: Mediale Berichterstattung ist sicherlich das Mindestmaß, wenn man von einem Erfolg sprechen will. Es ist aber für Protestierende schwierig, das Interesse der Medien hochzuhalten. Auch 2000 ist es nach dem ersten Aufschrei dann rasch abgeebbt. Jedenfalls führen friedliche Massendemonstrationen und Kundgebungen aus der Erfahrung heraus zu besserer medialer Resonanz als härtere Protestformen wie Besetzungen oder gar Ausschreitungen. Da gerät das eigentliche Anliegen des Protests dann oft in den Hintergrund.

STANDARD: Wie, denken Sie, wird sich der aktuelle Protest gegen die Bundesregierung entwickeln?

Dolezal: Ich glaube, dass er sich nicht so stark artikulieren wird können wie 2000. Protest gegen die Regierung per se ist, denke ich, derzeit ziemlich aussichtslos. Mehr Mobilisierung könnte sicher erreicht werden, wenn es die Aktivisten schaffen, ein ganz bestimmtes Thema zu besetzen und kleinere Ziele zu verfolgen. (Stefan Weiss, 18.10.2018)