Ein Wald voller Trauben. Bauern, die sich nachts an großen Feuern wärmen. Männer auf Bärenjagd, reich gedeckte Festtafeln. Kirchliche Prozessionen. Dralle Dorfschönheiten. Auch Bären an der Kette und exotische Tiger im Kampf mit Elefanten. Elegant trippelnde Keiler und anmutige Rehdamen bildfüllend in Szene gesetzt. Schwarzgetupfte Giraffen, die dem Betrachter geradewegs ins Auge zu blicken scheinen.

Es ist die Welt des einfachen Lebens, die Niko Pirosmani in seinen Bildern bannte. Es haftet ihnen jedoch auch etwas Traumhaftes, Irreales an.Foto:Albertina
Foto: Albertina

Es ist die heile Welt des einfachen bäuerlichen Lebens, von Weinlesen, Hochzeiten und religiösen Festen, die Niko Pirosmani (1862-1918) in seinen Bildern bannte. Der Maler stammte aus einem kleinen Dorf in der Region Kachetien, die noch heute als Brotkammer und Weinkeller Georgiens gilt. Ihren Bewohnern sagt man nach, sie würden ihre Lebenskraft und Philosophie aus den bearbeiteten Böden schöpfen, die sprichwörtliche Gastfreundschaft aus den Tiefen ihrer Seele.

Pirosmanis Bildern haftet daneben auch etwas Traumhaftes, Irreales an, etwas von den dankbaren Hirschen und listigen Füchsen, von denen die georgischen Märchen erzählen. Sie erinnern an den Prinzen Tari, den "Recken im Tigerfell", aus Schota Rustawelis mittelalterlichem Nationalepos, der erst einen Tiger erschlagen musste, bevor die Prinzessin ihn letztlich erhörte.

Heute zieren Pirosmanis Motive Teller, Geschirrtücher und Socken in den Souvenirläden der Hauptstadt Tiflis. Der Mann allerdings, der heute stolz als Nationalkünstler gefeiert wird und die Ein-Lari-Geldnote ziert, starb obdachlos unter einer Kellertreppe und wurde in einem unbekannten Armengrab bestattet.

Pirosmanis Name löst bei den Georgiern Pathosformeln aus. Seine Werke scheinen ihnen Speicher von nationaler Kultur und Heimatgefühl zu sein. Man identifiziert sich mit seinen Bildern einer verklärten und verlorenen Vergangenheit.

Pirosmanis Leben verlief eher bitter, endete im Alkohol: Er ist früh Vollwaise geworden, eine wohlhabende Familie aus Tiflis nahm den achtjährigen Nikolo Pirosmanaschwili unter ihre Fittiche, ließ ihm Bildung angedeihen. Dennoch sollte er in bürgerlichen Lebenskonzepten scheitern. Der künstlerische Autodidakt versuchte sich mit einem Geschäft als Schildermaler, als Bremser bei der Transkaukasischen Eisenbahn und als Betreiber eines Milchladens.

Schließlich entschied er sich für Kunst und Freiheit. Als Vagabund zwischen Stadt und Land malte Pirosmani für Kost und Logis direkt in den Schenken und Gasthäusern – also im geselligen Ambiente jener Menschen, für die seine Arbeiten bestimmt waren. Stets als nett und umgänglich beschrieben, lebte er von der Hand in den Mund und setzte das ins Bild, was seine Auftraggeber aus dem kleinbürgerlichen Milieu begehrten. Als "Wanderer zwischen den Welten" wird Niko Pirosmani nun mit 30 Werken aus dem georgischen Nationalmuseum in der Albertina präsentiert.

Von Russen entdeckt

Für die Nachwelt bewahrt haben Pirosmanis Werke allerdings nicht die Georgier, erzählt die Schweizer Kuratorin Bice Curiger, die 2011 die Biennale Venedig leitete und 1989 das erste Mal in Tiflis auf Pirosmani aufmerksam wurde. Ohne eine Handvoll Künstler der russischen Avantgarde wären seine Bilder – 200 sind insgesamt erhalten – heute sicher verloren. In der Abkehr vom Akademismus suchten die Künstler nach dem Unverfälschten. Naivität und kulturelle Unberührtheit sollten den angestrebten Neuanfang ermöglichen. Und so verband sich die Ferienreise der Petersburger Kunststudenten Kirill Sdanewitsch und Michail Le-Dantju ins schöne Tiflis auch mit der Hoffnung, dort auf anonyme Volkskunst zu stoßen.

Charme von Gelb und Blau

Und tatsächlich: In den düsteren Tavernen fanden sie Pirosmanis Bilder, deren Gelb, Blau, Rot und Weiß intensiv aus dem Dunkel des schwarzen Wachstuchgrundes herausleuchteten. Man glaubte, in ihm das georgische Pendant des französischen Naiven Henri Rousseau gefunden zu haben. Mit der Art, wie er Tag und Nacht in einem Bild verwob oder Szenen nebeneinanderreihte, schuf Pirosmani eine Art irreale Gleich- und Zeitlosigkeit.

Das imponierte den Neoprimitivisten der russischen Avantgarde. Sie lehnten die Tradition der illusionistischen Darstellung von Wirklichkeit ab. Pirosmani allerdings verneinte weniger westliche Traditionen, als er Prinzipien der Ikonenmalerei folgte. Er wandte also die byzantinische Bildtradition auf Motive der Volkskunst an: Darin zeigt sich dann auch seine Modernität. 1913 wurden vier seiner Bilder in Moskau in der Ausstellung Die Zielscheibe gemeinsam mit Werken von Malewitsch, Chagall oder Tatlin ausgestellt. Von der Kritik ignoriert, änderte das an seiner Position als künstlerischer Außenseiter nichts. Pirosmani blieb der einflussreichste unbekannte Maler für die Künstler der russischen Avantgarde.

Auch der 1916 gegründeten Gesellschaft georgischer Künstler kehrte er den Rücken. Alles, was nötig sei, so Pirosmani bei einer Versammlung über seine Utopie des offenen Austausches, sei ein zentrales Haus mit einem großen Tisch. Dort ließe sich bei Tee über die Kunst sprechen. "Aber ich sehe, Sie wollen das nicht, Sie sprechen von anderen Dingen." Dass sich das im Wandel befindliche Georgien in seiner aktuellen Kulturoffensive Richtung Europa ausgerechnet auf die Nostalgie eines Pirosmani besinnt, mag wundern. Allerdings beschwor man Pirosmani schon in der Sowjetzeit als Hüter des georgischen Geistes und lokaler Eigenheiten.

In Zeiten der Abgrenzung, in denen sich Georgien lieber als Teil Europas denn als postsowjetische Schwarzmeerregion im Würgegriff Russlands begreift, ist das wieder mehr als angesagt. (Anne Katrin Feßler, 20.10.2018)