Prolog: Müde, abgespannt, nervös, unendlich viel Durst und mindestens zehnmal am Tag die Blase leeren: Das waren schon untrügliche Zeichen dafür, dass da etwas nicht stimmte. Als ich den Blutbefund aus dem Labor holen wollte, war ich dann doch überrascht. Die Ordinationshilfe befahl, nachdem sie einen Blick in den Befund geworfen hatte, mit harschem Ton: "Setzen Sie sich hin!" Sie ignorierte meine Frage, was denn so Schreckliches passiert sei, und lief aufgeregt davon, um den Laborleiter zu holen. Der gute Mann sah dann auch recht bestürzt aus, meinte nur, ich müsse sofort zum behandelnden Arzt gehen, um weitere Schritte zu besprechen. "Sie haben Diabetes!" In einer ersten naiv-emotionalen Schockreaktion kam von mir: "Okay, dann nehme ich ein paar Medikamente – und alles wird gut." Kaum gesprochen, stellte ich mit einigem Selbstzweifel die Ergänzungsfrage: "Das geht doch, oder?"

Geht natürlich nicht: Als Typ-1-Diabetiker, der ich bin, ist man Opfer einer fatalen Verwechslung. Der Körper bildet Antikörper gegen die Insulin produzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse und zerstört diese wie Fremdkörper. Irgendwann einmal hat der betroffene Patient gar kein körpereigenes Insulin mehr und muss dessen künstliche, in riesigen Pharmafabriken hergestellte Variante injizieren, um Kohlenhydrate in Energie umzuwandeln. Das war vor 17 Jahren. Ich dachte natürlich: "Das kann es aber jetzt nicht sein!" und "Verdammt, warum ich?", fiel in ein Loch, zumal ich immer schon der war, der Unausweichliches nicht gern akzeptierte.

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Peter Illetschko hat nach seiner Diagnose die Liebe zum Fahrradfahren wiederentdeckt.
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Was hat das alles mit dem Radfahren zu tun, fragen Sie jetzt sicher. Albert Einstein soll die entscheidende Idee zur Relativitätstheorie beim Radfahren gehabt haben. Arthur Schnitzler nannte das Fahrrad den "Strohhalm, mit dem ich mich an die Lebensfreude klammere", Theodor Herzl nannte das Rad "eine Poesie in der Hast", und für Adam Opel, Gründer des gleichnamigen Unternehmens, war es auch ein Grund zur Freude. Er soll folgenden denkwürdigen, für einen Autoproduzenten ungewöhnlichen Satz gesagt haben: "Bei keiner anderen Erfindung ist das Nützliche mit dem Angenehmen so innig verbunden wie beim Fahrrad." Ich bin kein Genie und auch kein Unternehmensgründer, ich bin nur Journalist. Ich liebe mein Fahrrad dennoch. Genauer gesagt: Etwa ein Jahr nach der Diabetes-Manifestation, wie es im hochgestochenen Arztdeutsch heißt, habe ich diese Liebe wiederentdeckt.

Das Rad als Fortbewegungsmittel und ich, wir sind also seit 16 Jahren fix zusammen, wir lassen uns auch durch den Diebstahl von Sätteln, einer Satteltasche und dem Fahrradlicht nicht auseinanderdividieren. Im Frühjahr und Sommer hilft das Radfahren nicht nur beim Versuch, schwitzenden Körpern in der U-Bahn aus dem Weg zu gehen, sondern auch dabei, sich selbst fit zu halten. Wie oft bin ich schon mit einem Freund, ebenfalls Typ-1-Diabetiker, auf Tour gewesen? Wenn wir beim Treffen mit guten Zuckerwerten (80–130 mg/dl) angeben können, dann wird, bevor es losgeht, noch ein Eis gegessen. Eine rein prophylaktische Maßnahme, um durch den Sport nicht in einen Unterzucker zu rutschen.

Kein Schönwetterradler

Es war im vergangenen Sommer, Mitte Juli. Meinen Wunsch, den Drauradweg von Villach aus nach Slowenien zu fahren, quittierten Freunde noch mit Kopfschütteln. "Bei der Hitze?" Ich bewies aber gleich am ersten Tag, kein Schönwetterradler zu sein. Es regnete nämlich unaufhörlich, ein Guss jagte den anderen – ich war dennoch konzentriert und unnachgiebig. Aber das war bei weitem nicht die größte Herausforderung während der ersten Etappe. Zwischen Villach und Feistritz, dem ersten Tagesziel, mühte ich mich vor allem durch Teilabschnitte, die durch Wälder und über rumpelige Schotterwege führten. Angesichts der Witterungsbedingungen verlegte ich mich ab und an aufs Schieben. Es war still, nur der Regen war zu hören. Auf meinem Radhelm bildeten sich reißende Bäche mit Regenwasser. (Okay, ich übertreibe, aber es klingt doch gut, oder?) Aber natürlich war da noch etwas: der Diabetes. Ganz ignorieren geht ja dann doch nicht.

Ihn zu managen ist, ehrlich gesagt, auch ohne körperliche Anstrengung nicht immer ganz leicht. Wer die gleiche Erkrankung hat, weiß, wovon ich spreche: Aufregungen, Stress, Verkühlungen bringen unerklärliche Spitzen, manchmal rutscht man auch in Zuckertiefen (Hypoglykämien) – und weiß nicht wirklich, warum. Natürlich: Als mobiler, arbeitender Mensch hat man nicht bei jeder Mahlzeit die Gelegenheit, die enthaltenen Kohlenhydrate (Broteinheiten) mittels Waage zu bestimmten und in die entsprechende Insulinmenge umzurechnen. Man arbeitet immer wieder nach dem Motto "Daumen mal Pi" – und verschätzt sich auch manchmal.

Als Typ-1-Diabetiker versucht man es ja meist mit einer Basis-Bolus-Therapie. Eine bestimmte Menge von lang wirkendem Insulin wird ein- bis zweimal täglich verabreicht. Vor jedem Essen kommt das schnell wirksame Insulin dazu. Damit kommt man recht gut durch, hat wenig Probleme. Beim Sport empfiehlt es sich, die Therapie anzupassen. Selbst wenn das jetzt langweilig klingen sollte: bitte nicht ohne Konsultation beim Arzt!

Wenig Insulin war immer noch zu viel

Ich habe vor dem Start der ersten Etappe das Langzeitinsulin unverändert gelassen – und, weil ich mit Flussradweg jenen relativ flachen neben der Donau in Verbindung brachte, also mit einem nicht ganz so anstrengend Weg rechnete, vor dem Essen ein wenig Insulin injiziert. Ich hatte ja auch die Beschreibung als familienfreundlicher Leichtradweg gelesen. Das war er auch manchmal. Gemütlich die Drau entlangradeln, beschaulich, ruhig, fast meditativ, das war schon möglich. Aber sonst? Vorweg: Weniger Insulin zu spritzen war immer noch zu viel. Als Diabetiker ist man vernünftigerweise mit Traubenzucker und Süßgetränken ausgestattet, ehe man sich auf ein Rad setzt. Ich war also versorgt und musste mich nicht fürchten, die Hypoglykämie nicht gleich auffangen zu können. Das war an diesem Tag ein durchaus aufwendiger Job: Fünf ekelhaft süße Getränke und zahllose Traubenzucker später kam ich in Suetschach bei Feistritz an, wo immerhin ein Gasthaus noch 30 Minuten warme Küche hatte. Ansonsten waren die Straßen schon hochgeklappt. Aber was braucht man schon nach fast 50 Kilometern Biketour außer einem Essen, viel zu trinken und einem Bett.

Am nächsten Tag ging es weiter, wobei ich mich beim Aufsitzen auf dem Sattel doch fragte, wie lange das gutgehen würde. Wohlmeinende Menschen schickten Nachrichten, fragten, ob alles gut sei und man sich eine Gesäßcreme mitgenommen habe. So etwas gibt es wirklich, aber ein echter Kerl braucht doch nur eine Radlerhose, maximal, alles andere ist übertrieben!

Die Hoffnung auf weniger Regen

An diesem Tag ging es nach St. Primus, die Hoffnung war groß: bitte kein Regen und keine schweißtreibenden Steigungen! Danke! Das wurde natürlich nicht erfüllt. Wobei: Das Wetter war eigentlich großartig bis auf die letzte Stunde, als es schüttete. Ich quälte mich mit Regenschutz bekleidet über eine kurvenreiche, leicht ansteigende Landstraße und versuchte Haltung zu bewahren. Der Mensch vergisst unangenehme Momente gern, die Erinnerung verblasst: Sicher ist, ich war dabei und danach vor allem stolz auf mich, es geschafft zu haben – ohne Unterzuckerung. Drei Mahlzeiten ohne schnell wirkendes Insulin verhalfen mir dazu. Nur, wo kriegt man abends noch etwas zu essen? St. Primus ist erst auf dem Weg dazu, der Nabel der Kärntner Touristik zu werden, weshalb die nächste Möglichkeit für ein Abendessen doch ein paar Kilometer entfernt war. Da heißt es, hart zu sich selbst zu sein. Nicht jammern, denn man hätte das ja auch besser planen können. Die Zuckerwerte waren übrigens fantastisch. Muskeln taten weh, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie habe.

Der dritte Tag war wieder ganz anders. Der Weg zur slowenischen Grenze galt als nicht sehr weit. 50 bis 60 Kilometer, das ist auch noch zu schaffen, dachte sich der Autor dieser Zeilen, zumal er auch gut und lange geschlafen hatte. Okay, die Beine fühlten sich schon morgens merkwürdig fremd an, eigentlich wie Ziegelsteine. Ich dachte: Das würde schon wieder weggehen, wenn ich nur wieder in den Bike-Groove komme. Das Wetter war prächtig, noch ein Frühstück, selbstverständlich ohne Insulin zu spritzen. Es sollte also nichts die Freude trüben. Aber dann waren da doch recht viele Steigungen. Eine Binsenweisheit sagt: Wo es raufgeht, kommt man auch wieder runter! Die nächste Bergauffahrt kommt bestimmt! Nach der gefühlten 20. Steigung und etwa tausend Höhenmetern war ich stolz auf mich. Ein Held, wenn auch ein erledigter, saß in Lavamünd bei Kaffee und Kuchen, so sportlich angespannt wie ein feuchter Ausreibfetzen, aber glücklich. Ich war also nicht ganz nach Slowenien gekommen, aber fast.

Epilog: Man braucht Ziele, auch und gerade mit einer unheilbaren Krankheit. Deswegen werde ich die nächste Tour auf fünf Tage anlegen. An wenigsten zwei Tagen des heurigen Trips konnte mich der Diabetes im Großen und Ganzen gernhaben. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl. (Peter Illetschko, 22.10.2018)