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Drei Jahrzehnte waren Lise Meitner und Otto Hahn ein kongeniales Forscherduo. Ihre Wirkungsstätte war das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Dahlem.

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Mit dieser Versuchsanordnung wurde 1938 die Kernspaltung entdeckt.

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Brief von Lise Meitner an Otto Hahn am 21. Dezember 1938: "Lieber Otto, Herzlichen Dank für deinen l. Brief und alle Deine Mühe. Du kannst mir glauben, dass ich verstehe, dass Du allerlei im Kopf hast. (...) Eure Radiumresultate sind in der Tat sehr verblüffend. (...) Mir scheint vorläufig die Annahme eines so weitgehenden Zerplatzens sehr schwierig, aber wir haben in der Kernphysik so viele Überraschungen erlebt, dass man auf nichts ohne weiteres sagen kann: es ist unmöglich."

Quelle: AMPG, III. Abt., Rep. 14, Nachlass Otto Hahn, Nr. 4873

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Lise Meitner 1959. Im Jahr darauf packt sie nach 22 Jahren im schwedischen Exil noch einmal die Koffer und übersiedelt nach Cambridge.

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David Rennert, Tanja Traxler: "Lise Meitner – Pionierin des Atomzeitalters". € 24 / 224 Seiten. Residenz-Verlag, Salzburg/Wien 2018

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Als Ludwig Boltzmann im Oktober 1902 seine Antrittsvorlesung hält, ist es für ihn kein besonderer Tag: Durch seinen unsteten Lebenswandel zieht es den österreichischen Physiker alle paar Jahre an einen anderen Lehrstuhl. 1902 hält er bereits seine sechste Antrittsvorlesung und gar die zweite als Ordinarius für Theoretische Physik an der Universität Wien. Bereits zuvor hatte er denselben Lehrstuhl inne, war 1900 kurzfristig einem Ruf nach Leipzig gefolgt und 1902 quasi als sein eigener Nachfolger wieder nach Wien zurückgekehrt.

"Man pflegt die Antrittsvorlesung stets mit einem Lobeshymnus auf seinen Vorgänger zu eröffnen", beginnt Boltzmann seinen Vortrag. "Diese hier und da beschwerliche Aufgabe kann ich mir heute ersparen, denn gelang es auch Napoleon dem Ersten nicht, sein eigener Urgroßvater zu sein, so bin ich doch gegenwärtig mein eigener Vorgänger." So unspektakulär der Tag für Boltzmann ist, so bedeutungsschwer ist er für eine seiner wenigen Hörerinnen im Saal. Die 23-jährige Lise Meitner besucht ihre erste Vorlesung in Theoretischer Physik – jener Disziplin, die ab nun ihr Lebensinhalt sein wird und die sie um entscheidende Beiträge erweitern wird.

Kampf für die Wahrheit

"Sie hat oft über die ansteckend enthusiastischen Vorlesungen von Ludwig Boltzmann gesprochen", berichtet später Meitners Neffe Otto Robert Frisch über den prägenden Einfluss des großen Physikers auf seine Tante. "Wahrscheinlich war er es, der ihr die Vision der Physik als eines Kampfes für die letzte Wahrheit gegeben hat, eine Vision, die sie nie verloren hat." Frisch bezeichnet seine Tante einmal sehr treffend als eine "Wahrheitsfanatikerin".

Nach Boltzmanns Suizid 1906 hält Lise Meitner nichts mehr in Wien, und sie entschließt sich zu einem Studienaufenthalt in Berlin. Beim dortigen Ordinarius für Theoretische Physik, Max Planck, will die inzwischen promovierte Physikerin ihre wissenschaftliche Ausbildung fortsetzen.

Aus den zunächst angedachten zwei bis vier Semestern sind schließlich 31 Jahre geworden. Als Meitner Deutschland im Juli 1938 überstürzt verlassen muss, steht sie am Zenit ihrer beispiellosen Karriere: Meitner ist die erste Universitätsassistentin in Preußen, eine der ersten Physikprofessorinnen in Berlin und die zweite der drei Physikerinnen, die sich vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland habilitierten. Sie leitet ihre eigene Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem und bewohnt die dortige Direktorenvilla.

Produktives Forscherteam

Über all die Jahre ist ihre wissenschaftliche Karriere mit Otto Hahn verschränkt. Auf der Suche nach experimenteller Betätigung lernt Meitner den Chemiker bereits in den ersten Wochen nach ihrem Umzug nach Berlin kennen. Hahn wird ihr wichtigster Forschungspartner und engster Freund. Das Duo aus Chemiker und Physikerin ist die ideale Besetzung für ein neues Forschungsfeld des frühen 20. Jahrhunderts: die Radioaktivität.

Gemeinsam entdecken die beiden zwei neue radioaktive Substanzen. Nach dem Ersten Weltkrieg steht jeder von ihnen einer eigenen Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Dahlem vor. Meitner beschäftigt sich vor allem mit Betastrahlen. Neben Alpha- und Gammastrahlen handelt es sich dabei um eine Form der radioaktiven Strahlung, die künstlich wie auch natürlich auftritt. Meitner kann entscheidende Beiträge auf diesem Gebiet leisten, was der Österreicherin in Deutschland und international in Fachkreisen Ruhm einbringt. Albert Einstein nennt sie "unsere Madame Curie".

Antisemitische Entlassung

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 erschüttert alle Lebensbereiche in Deutschland – auch die Wissenschaft ist sofort betroffen. Der Ausschluss jüdischer und politisch missliebiger Beamter aus allen Einrichtungen des öffentlichen Dienstes geht rasant voran. Im sogenannten "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" wird erstmals juristisch definiert, wer den Nazis als "Nichtarier" gilt und zu entlassen ist: Jeder, der auch nur einen jüdischen Großelternteil hat.

Auch Lise Meitner, die an der Universität Berlin lehrt, muss nun die "Rassenzugehörigkeit" ihrer Großeltern angeben – es ist vielleicht das erste Mal, dass sie die Worte "nicht arisch" ausschreibt. Dass sich Meitner 1908 protestantisch taufen lassen hatte, schützt sie ebenso wenig wie die versuchten Interventionen von Max Planck und Otto Hahn: Ihr wird die Lehrbefugnis an der Universität entzogen.

Vielen Kollegen bleibt nichts anderes übrig, als Deutschland zu verlassen. Auch Lise Meitner erhält Angebote, ins Ausland zu gehen, lehnt aber ab: Ihre von der Industrie finanzierte Stelle am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie scheint nicht gefährdet, Freunde bestärken sie zu bleiben. Die österreichische Staatsangehörigkeit schützt sie noch vor einigen antisemitischen Maßnahmen.

Isoliert in Dahlem

Doch die folgenden Jahre sind für Lise Meitner von zunehmender Isolation gekennzeichnet. Sie darf keine Vorträge mehr halten und ist vom öffentlichen akademischen Leben in Deutschland praktisch ausgeschlossen. Ihr Wirkungsbereich beschränkt sich nun auf das Institut in Dahlem, wo sie sich regelrecht in Arbeit stürzt – doch auch hier wächst der Druck der Nationalsozialisten.

Mit dem "Anschluss" Österreichs an Deutschland im März 1938 wird die Lage für Lise Meitner gefährlich. Sie gilt mit einem Mal als "reichsdeutsche Jüdin" und kann nicht mehr legal ausreisen, die Entlassung am Dahlemer Institut ist nur noch eine Frage der Zeit. Otto Hahn und andere Freunde im In- und Ausland versuchen, ihr die illegale Ausreise zu organisieren. Im Juli 1938 gelingt die riskante Flucht über die Niederlande und Dänemark nach Schweden, wo Meitner eine befristete Stelle am Nobelinstitut erhält.

Doch Erleichterung stellt sich nicht ein – Lise Meitner hat beinahe alles verloren. Sie ist fast 60 Jahre alt, als sie in Schweden mit zwei kleinen Koffern ankommt, hat keine Dokumente, keine Freunde und ist fernab vom wissenschaftlichen Geschehen, das jahrzehntelang ihr Leben bestimmte. Die Arbeitssituation am Nobelinstitut ist völlig unzureichend, sie hat kaum Infrastruktur, geschweige denn Assistenten zur Verfügung. "Mein ureigenstes Leben hat den Inhalt = Null. Ich kann es manchmal selber nicht fassen, dass ich es bin, die dieses Leben führt, aber es ist leider harte Wirklichkeit, die sich nicht wegphilosophieren lässt", schreibt sie ihrer Freundin Elisabeth Schiemann.

Durchbruch im Exil

Ausgerechnet in diese dunkle Zeit fällt Meitners wichtigste wissenschaftliche Entdeckung: In den Weihnachtstagen 1938 gelingt ihr gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch die theoretische Erklärung der Kernspaltung. In ihren letzten Jahren in Berlin hatte sie mit Otto Hahn und Fritz Straßmann an Experimenten gearbeitet, bei denen Uran mit Neutronen beschossen wurde. Die beiden Chemiker führen die Arbeit nach ihrer Flucht allein fort, Meitner kann sich nur brieflich daran beteiligen. Im Dezember 1938 stoßen sie auf unerwartete und rätselhafte Resultate, Hahn bittet Meitner um eine Erklärung: "Du tust ein gutes Werk, wenn Du einen Ausweg findest", schreibt er ihr nach Schweden.

Sie findet ihn: Meitner erkennt, dass die überraschenden Ergebnisse bedeuten müssen, dass hier eine Atomkernspaltung vorliegt. Ihre Berechnungen mit Frisch ergeben auch, dass bei einem solchen Prozess, der bisher nicht für möglich gehalten wurde, gewaltige Energiemengen freigesetzt werden müssen.

Diese Erkenntnis markiert nicht nur eine der großen wissenschaftlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, sondern führt auch direkt in eine neue Ära der Kriegsführung und Zerstörung. Anders als ihr Neffe Frisch und viele Kollegen beteiligt sie sich nicht am Bau einer Atombombe. "Während des Krieges pflegte ich zu meinem Stockholmer Freund Oskar Klein zu sagen: ‚Ich hoffe, die Konstruktion einer Atombombe gelingt nicht, aber oft fürchte ich, sie gelingt doch.‘ Meine Furcht war berechtigt, und wie sieht die Welt heute aus!", schreibt Meitner 1963.

48 Nobel-Nominierungen

Lise Meitner wurde im Laufe ihres langen Lebens mindestens 48 Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen, erhalten hat sie ihn nie. Für die Entdeckung der Kernspaltung wurde Otto Hahn allein ausgezeichnet, er selbst nominierte sie daraufhin einmal für den Preis. Trotz vieler Höhen und Tiefen währte die Freundschaft von Meitner und Hahn bis ins hohe Alter.

Lise Meitner starb am 27. Oktober 1968, kurz vor ihrem 90. Geburtstag, in Cambridge. Fünf Jahre zuvor hatte sie noch ein letztes Mal ihre Heimatstadt Wien besucht und einen Vortrag in der Urania gehalten. "Ich kam immer zu dem Schluss, dass das Leben nicht einfach sein muss, wenn es nur inhaltsreich ist", sagte sie damals vor einem zum Bersten gefüllten Saal. "Und dieser Wunsch wurde mir erfüllt." (David Rennert, Tanja Traxler, 27.10.2018)