Niemand wird allen Ernstes behaupten, dass das österreichische Schulsystem in den letzten Jahrzehnten von großen Reformen geprägt war. Ganz im Gegenteil: Gegenseitige, vor allem ideologisch begründete Blockaden hatten einen besorgniserregenden Stillstand zur Folge. Die sogenannten Reformpakete waren Minimalkompromisse zwischen den damaligen Regierungspartnern SPÖ und ÖVP. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Neue Mittelschule als Nachfolgerin der Hauptschule, ein Kompromissmodell für die nicht zustande gekommene gemeinsame Schule. Letztere ist ja bekanntlich ein No-Go für die ÖVP und zwar seit den Anfängen der (Ersten) Republik.

Gravierend ist auch, dass die Tatsache, dass Österreich längst eine Migrationsgesellschaft ist und dies in unseren Schulen entsprechenden Niederschlag gefunden hat, ebenfalls über Jahrzehnte ignoriert beziehungsweise zumindest vernachlässigt wurde. Die Hauptschulen und später die Neuen Mittelschulen wurden – besonders in den Städten – zunehmend zu Problemschulen, Brennpunktschulen oder – politisch korrekt – "Schulen mit besonderen Herausforderungen" genannt.

Die urbane Mittelschicht ist dort ebenso wenig zu finden wie soziale Aufsteiger mit migrantischem Hintergrund. Die traurige Tatsache, dass in Österreich Bildungsungerechtigkeit eine so große Rolle spielt wie in kaum einem anderen vergleichbaren Land, ist seit zwei Jahrzehnten bekannt, seit wir an internationalen Bildungsvergleichsstudien teilnehmen. Gezielte Maßnahmen dagegen sind mir wenige bekannt. Ein ebenso großer Missstand ist, dass immer mehr Jugendliche den Pflichtschulabschluss beenden, ohne die Bildungsstandards zu erreichen.

Dass Österreich eine Migrationsgesellschaft ist, wird in der derzeitigen Schulpolitik ignoriert.
Foto: derstandard/Christian Fischer

Rückwärtsgang eingelegt

Nun haben wir also eine Regierung, die die Voraussetzungen dafür hätte, Reformen in Gang zu setzen, ohne einander durch gegenseitige Blockaden Stolpersteine in den Weg zu legen. Wir haben einen parteifreien Minister, der aus der Wissenschaft kommt und als ehemaliger Vorsitzender des Expertenrats für Integration der Bundesregierung ein Sensorium für migrationsbedingte Herausforderungen an unsere Schulen haben sollte. Zugegeben, in seinem Gremium war zwar kein kein Vertreter aus dem schulischen Bereich, aber mit dem Soziologen Kenan Güngör immerhin ein Experte vertreten, der an Schulen forschte. Wer sich erhofft hatte, dass aufgrund dieser neuen Konstellation Reformen in Angriff genommen würden, wurde schnell eines Besseren belehrt. Denn schon am Regierungsprogramm war ersichtlich, dass statt der jahrzehntelangen Blockadepolitik ein Rückwärtsgang eingelegt wurde.

Die Fakten sind inzwischen hinlänglich bekannt: verpflichtende Deutschklassen nach dem segregierenden Modell, Rückkehr der verpflichtenden Ziffernnoten in der Volksschule, Wiedereinführung des Sitzenbleibens in der Volksschule, Kürzung der Ressourcen für Deutschförderung, "Entrümpelung" der Lehrpläne, neue Aufnahmeverfahren für den Zugang zur AHS, um nur einige der besonders problematischen Bereiche zu nennen.

Dass sich für keine dieser Maßnahmen auf nationaler wie auf internationaler Ebene Befürworter aus der Wissenschaft fanden, wird vom zuständigen Minister nicht nur hinweggewischt, sondern, im Fall der Deutschklassen, als "ideologisch motiviert" pauschal abgewertet. Die fast durchwegs negativen Stellungnahmen zu den Deutschklassen wurden ignoriert, zum aktuellen Pädagogikpaket will sich Minister Heinz Faßmann die überwiegend ebenfalls negativen Stellungnahmen immerhin ansehen. Zum strittigsten Thema, der gemeinsamen Schule, verweigert der Minister überhaupt eine Stellungnahme, er fühle sich dafür nicht kompetent, meinte er kürzlich. Bei anderen Themen gibt er zu, wider besseres Wissen zu handeln, er folge politischen Notwendigkeiten.

Viele Baustellen

Zugegeben, es gibt auch Positives: Da wäre die Bildungspflicht oder die geplanten Maßnahmen zur Digitalisierung. Dass die Reifeprüfung, vor allem in Mathematik, verbessert werden soll, kann ebenso positiv verbucht werden wie die Aussetzung der "Neuen Oberstufe". Vieles, zu vieles aber steht an: Da wären vorrangig die Neuen Mittelschulen in sozialen Brennpunkten, denen mit der angekündigten "Aufwertung" mit Sicherheit nicht gedient sein wird. Die Flucht der Mittelschicht wird damit nicht gestoppt werden, das hat schon in der Hauptschule nicht funktioniert, mit der Neuen Mittelschule ebenso wenig, und mit der künftig nur mehr als "Mittelschule" bezeichneten Schulform wird die erhoffte Aufwertung auch nicht klappen.

Ein weiteres, großes Problem: Wir stehen an letzter Stelle unter vergleichbaren Staaten, was die Ausstattung mit sogenanntem Unterstützungspersonal betrifft, also mit Sozialarbeitern, Schulpsychologen, Förderlehrern und ähnliches. Hier sind keine Verbesserungen in Sicht. Der Bereich der Elementarpädagogik, in dem die wichtigsten Weichen für die spätere Bildungslaufbahn gestellt werden, wird weiterhin sträflich vernachlässigt, eine tertiäre Ausbildung nicht einmal angedacht, obwohl wir inzwischen das einzige EU-Land sind, in dem das nicht Standard ist. Eine gerechte Zuteilung der Ressourcen an Schulen nach Kriterien des Sozialindex wird bestenfalls in Nebensätzen erwähnt, und von geplanten Investitionen in die Qualität des Unterrichts und der Schulleitungen habe ich bislang noch nichts gehört. Die hierzulande ohnehin äußerst schwach ausgeprägte Schulautonomie hat durch die zentral verordneten Maßnahmen gerade einen heftigen Rückschlag erlitten, und der Ausbau von ganztägigen Schulen wurde nach hinten verschoben.

Viele Baustellen also, aber an keiner wird gearbeitet. Das Schlimmste aber: Es fehlt die mittel- und längerfristige Perspektive, es fehlt ein Gesamtplan, von einer Vision wollen wir gar nicht erst reden. Das kann nicht gut gehen. Höchste Zeit also, dass wir das einfordern. Wo konkret angesetzt werden könnte und sollte, das soll hier demnächst näher ausgeleuchtet werden. (Heidi Schrodt, 7.11.2018)