Die Uraufführung von "Heldenplatz" im Burgtheater war der letzte öffentliche Auftritt von Thomas Bernhard.

Foto: Matthias Cremer

Es gibt Kränkungen, die offenbar keine Volksseele hinnehmen möchte. Ihre "Gesundheit" pflegte man in Österreich lange genug an ihrem Empfindungsvermögen festzumachen. Die Kränkung, die der Republik Österreich durch Thomas Bernhards "Heldenplatz" widerfahren sollte, saß von vornherein tief. Und so bedurfte es der "Kronen Zeitung", um aus der Mördergrube des Zeitungsboulevards ein Herz zu machen. "Österreich, 6,5 Millionen Debile!" titelte man in der Wiener Muthgasse im Oktober 1988. Es handelte sich um eine Art Zitat. Nur war man weder fähig noch willens, den Zusammenhang, in dem dieses stand, ordnungsgemäß anzuzeigen.

Der größte Kulturskandal in der neueren österreichischen Geschichte war schon vorher ausgebrochen. Er wurde nur nicht gleich bemerkt. Das "Profil" hatte im Sommer begonnen, Zitate aus dem unveröffentlichten Stück "Heldenplatz" bedenkenlos aus dem Zusammenhang zu reißen und sie allen Unbedarften zum Fraß vorzuwerfen. Die Zeitungen hatten das bis zum Schluss unter Verschluss gehaltene Stück nicht gelesen. Aber sie hatten Blut geleckt. Die Sorge um das Heil der Volksseele korrelierte trefflich mit derjenigen um die Auflagenzahlen.

So streuten alle, die da willens waren, Betroffenheit zu erzeugen und sie selbst zu heucheln, Zitate in die Öffentlichkeit. Politiker, gleich ob von der Regierungs- (SPÖ, ÖVP) oder der Oppositionsbank (FPÖ), garnierten ihr Halbwissen mit der Abgabe moralischer Expertisen. Die Entrüstung von Theaterfiguren log man dreist um in Meinungsbekundungen des Autors. Es war, als ob die Auseinandersetzungen der Waldheim-Wahl fortgesetzt würden. Die Tragödie der Zweiten Republik, ihre Schwierigkeit, mit der NS-Vergangenheit ins Reine zu kommen, schien in ein Satyrspiel verwandelt.

Rossknödel vor der Burg

Claus Peymann, als Burgtheaterdirektor heiß umstritten, behielt in dem ganzen Schlamassel gute Laune. Als der Vorhang zur "Heldenplatz"-Uraufführung am 4. November 1988 hochging, dampften Rossknödel vor den Stiegen der Burg, und auf der Galerie entrollten Protestierende ein Transparent: "Für die Frechheit der Kunst". Unter ihnen befand sich, wie ein Foto beweist, ein junger Mann namens Heinz-Christian Strache. Der ist heute Vizekanzler und Sportminister der Republik.

Thomas Bernhard, der wenige Monate nach dem Tumult starb, gehört der Weltliteratur an. Er steht somit nicht mehr im Prestigebesitz der Republik. Der "Heldenplatz"-Skandal lehrt noch heute, was passiert, wenn Vertreter der Politik glauben, vorab auf der sicheren Seite sein zu müssen. Sie agitieren gegen Künstler. Sie glauben sich berechtigt, für die Allgemeinheit zu sprechen. Sie agieren gegen eine Minderheit, die ihre besondere Schutzwürdigkeit genießen sollte. Denn Künstler produzieren Güter, indem sie nicht so sehr Werte schöpfen, sondern auf Missstände hinweisen.

Die "grobe Beleidigung des österreichischen Volkes" (Kurt Waldheim über "Heldenplatz") entpuppte sich als sittlich wertvolles Trauerspiel. In einem Klima des Gemunkels glaubte eine Allianz aus Halbwissenden und Viertelgebildeten, gegen einen Dramatiker mobil machen zu müssen. Dabei gehört die demokratische Öffentlichkeit von jeher denen, die sich gegen eine Verrohung der Politik zur Wehr setzen. Für dieses saure Geschäft bedarf es heute vielleicht nicht einmal eines "Übertreibungskünstlers" wie Thomas Bernhard. Manchmal reicht es aus zu sagen, was Sache ist. (Ronald Pohl, 5.11.2018)