Trachtler, Bildungsbürger und Bobos – und wenig gemeinsamer Gesprächsstoff.

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Es besteht aller Grund zur Sorge um die liberale Demokratie. Ihre Institutionen geraten gerade ordentlich unter Druck. In Ungarn und Polen stirbt die Medienfreiheit, und die Unabhängigkeit der Justiz, insbesondere jene der Höchstgerichte, wird ausgehöhlt. In Italien unterschreitet ein Innenminister das abgesichert geglaubte Niveau an Menschlichkeit und gutem Geschmack, ohne dass ihm irgendjemand aus seiner Koalitionsregierung widerspricht. Brasilien wählt einen Präsidenten, der die Militärdiktatur verherrlicht. Brexit und Trump muss man nicht mehr eigens erwähnen.

Warum gewinnen Parteien und Politiker, die ein schräges Verhältnis zur Demokratie haben, Wählerstimmen? Die veröffentlichte Meinung dazu vermengt Fakten mit Empörung. Mit Entsetzen werden wir Zeugen, wie Politiker mit fremdenfeindlichen, antihumanistischen, verschwörungstheoretischen und hinter die Aufklärung zurückfallenden Positionen Macht und Einfluss gewinnen. Die medienpräsenten Experten bleiben an der Oberfläche des politischen Marketings. Andere bestätigen sich selbst in etablierten Erklärungen.

Das Sein bestimmt ...

Die kontinentaleuropäischen Intellektuellen sind nach wie vor marxistisch geprägt: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Für alles Böse auf der Welt muss es materielle Ursachen geben. Dafür wird immer wieder der Neoliberalismus aus der Mottenkiste geholt und verschwörungstheoretisch eingekleidet. In der europäischen Wirtschaftspolitik finden sich gar nicht so viele Indikatoren. So ist die Sozialquote in den meisten EU-Ländern und auch in Österreich seit 20 Jahren konstant und sogar leicht steigend. Freilich muss dennoch in vielen Bereichen gespart werden, weil die Pensionen und das Gesundheitssystem immer mehr kosten. Auch die Einkommensverteilung hat sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert, die Gini-Koeffizienten sind stabil. Die Vermögensverteilung, über die wir statistisch recht wenig wissen, hat sich wohl polarisiert – was sich vor allem daraus erklärt, dass wir in Europa auf eine einzigartig lange Periode ohne Kriege – die großen Gleichmacher -, Revolutionen und vermögensvernichtende Wirtschaftskrisen zurückblicken.

Ja, der Finanzkapitalismus wuchert und muss dringend stärker reguliert und besteuert werden. Aber sind es wirklich die Kapitalismuskritik und die Verteilungsungerechtigkeit, die die Wähler scharenweise zu AfD und FPÖ treiben? Hat der moderne Kapitalismus so viele Verlierer produziert, die sich jetzt rächen?

Die alternative Erklärung ist der kulturelle Backlash. Immer mehr Bürger können mit der gesellschaftlichen Liberalisierung nicht mehr mit. Nach den Frauen sollen nun auch Homosexuelle und Migranten gleichberechtigt werden – da kommt keine Freude mehr auf, sondern Widerstand. Dieser nährt sich auch aus geringerer Bildung, ruralem Habitus und Sympathie für das Autoritäre. Die US-amerikanischen Politikwissenschafter Pippa Norris und Ronald Inglehart haben überprüft, welche Erklärung stärker ist: Wirtschaft oder Kultur. Die Antwort ist eindeutig: It's the culture, stupid!

Sie verwerfen zuerst das althergebrachte Links-rechts-Schema und ersetzen es durch zwei Dimensionen: In der ersten, der wirtschaftspolitischen, geht es um Markt (rechts) versus Staat (links). Linke Parteien sind für Umverteilung, einen starken Wohlfahrtsstaat und eher kollektivistisch. Rechte Parteien sind für den freien Markt und wenig Staatseinfluss, für Deregulierung, geringe Besteuerung und Individualismus. Die zweite Dimension ist kulturell, man könnte sie mit Liberalismus versus Autoritarismus umschreiben – Norris und Inglehart nennen es Populismus: Liberale Parteien sind für eine pluralistische Demokratie, Aufgeschlossenheit gegenüber dem Fremden und eine progressive Gesellschaftspolitik. Populistische Parteien setzen auf Anti-Establishment, starke Führer, Nationalismus und traditionelle Werte wie Familie, Nation oder Ethnie.

Analysiert man die europäischen Wahlergebnisse der letzten Dekade mit diesem Schema, das auf dem Chapel Hill Expert Survey beruht, so sind linkspopulistische Parteien genauso auf der Siegerstraße wie rechtspopulistische.

Die großen europäischen Sozialstudien zeigen, dass es nicht die tatsächlichen Modernisierungsverlierer sind, die populistisch wählen, sondern jene Menschen, die Angst haben vor Zuwanderung, vor der Gleichberechtigung, vor der Ehe für alle und vor anderen gesellschaftlichen Veränderungen. Es sind Menschen, die sich in ihrer Weltanschauung und in ihren Werten gefährdet sehen und daher populistisch wählen. Es sind Angestellte, Facharbeiter und Kleinbürger, die eher im ländlichen Raum wohnen und ökonomisch abgesichert sind. Entscheidend sind aber folgende Werthaltungen: gegen Immigration, für den starken Mann, voller Misstrauen gegenüber nationalen und internationalen Institutionen und skeptisch gegenüber der Demokratie generell.

Was kann man dagegen tun? Nach mehr Bildung und Aufklärung zu rufen ist wenig originell – aber was konkret tun? Die Diabolisierung und Verächtlichmachung verstärkt jedenfalls die Spaltung der Gesellschaft. Der Erfolg der Van-der-Bellen-Koalition zeigte, dass die Liberalen in Österreich nur dann eine knappe Mehrheit zustande bringen, wenn sie all ihre Kräfte mobilisieren und Gespräche zwischen den Generationen und sozialen Schichten führen. Es geht also – mit großer Anstrengung und Bereitschaft zum offenen Gespräch mit Andersdenkenden.

... das Bewusstsein ...

Hält man kulturelle Ursachen für entscheidend, dann sollte unser Blick auf die Populär- und Alltagskultur fallen, wo das Gemeinsame längst verlorengegangen ist. Gab es einmal Austropop, Mundl, Kottan und den "Kaisermühlen-Blues" für alle, so gibt es heute keine Brücke mehr zwischen Andreas Gabalier und dem Nino aus Wien, zwischen Hansi Hinterseer und Voodoo Jürgens. Die Dirndln und Lederhosen auf dem Weg zum Wiener-Wiesn-Schunkeln treffen zwar am Praterstern noch auf die Bildungsbürger und Bobos auf dem Weg ins Konzerthaus – zu sagen haben sie einander längst nichts mehr.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu diagnostizierte das schon vor 50 Jahren. Die feinen Unterschiede in Lebensstil und Kultur sind heute offensichtlich zu unüberwindlichen Gräben geworden.

Ob es je gelingen kann, den Hochmut auf beiden Seiten abzubauen? Kommunikative Echoräume in den sozialen Medien verschärfen bloß die Unterschiede. Einigende Institutionen – das Bundesheer vielleicht und der gemeinsame Präsenzdienst, die Vereine auf dem Land und die gemeinsame Freiwilligenarbeit – verlieren deutlich an Bedeutung. Der Sport schafft es schon lange nicht mehr, identitätsstiftend zu sein. Kommt auch bei uns eine kulturelle Spaltung, wie wir sie in den USA beobachten können und wie sie Anne Applebaum in der Oktoberausgabe des "Atlantic" schockierend eindringlich aus Polen und Ungarn berichtet?

... oder umgekehrt?

Vielleicht ist eine breit angelegte Wertediskussion unsere letzte Chance. Diese wurde von den Liberalen aller Parteien bislang vermieden, weil sie darin wenig Sinn sahen: Über Werte kann man ohnehin nicht vernünftig diskutieren, nie wird man sich einigen, außerdem sei jeder frei in seinen Werten. Dabei – so der Harvard-Philosoph Michael Sandel – übersah man das Bedürfnis der Menschen, sich über Werte auszutauschen, redete ihre Sorgen klein und überließ das Feld den Populisten mit ihren simplen Argumenten.

Nach Sandel geht es um Fragen wie soziale Gerechtigkeit und Meritokratie, Nationen und Nationalstaaten und den Wert manueller Arbeit. Wie viel Vermögensungleichheit kann und will sich eine Gesellschaft leisten, wenn das meritokratische Versprechen zusammenbricht, dass jeder sozial aufsteigen kann und gesellschaftliche Positionen aufgrund von Kompetenzen und Engagement vergeben werden? Ist es wirklich moralisch verachtenswert, wenn uns das Schicksal der Nachbarn näher liegt als das von Menschen, die aus fernen Ländern zu uns flüchten? Wie kann es gelingen, in einer digitalisierten Wissensgesellschaft den Wert manueller Arbeit ausreichend zu würdigen? Der tiefe Respekt vor dem Arbeiter, der Arbeiterin und ihrem Können ist verlorengegangen.

Es gibt dazu keine einfachen Antworten. Die Diskussion müssen wir aber führen, weil diese Fragen den Menschen am Herzen liegen – auch wenn gebildete Liberale gerne jede Werthaltung, die der ihren zuwiderläuft, mit geschniegelten Argumenten und der Moralkeule niederknüppeln. Das Zuhören und Eingehen auf Sorgen, das müssen die Liberalen von den Populisten lernen. Die Populisten und ihre Wähler müssen wieder lernen, auf Vernunft zu hören, Expertise, Erfahrung und Eliten anzuerkennen und sich aus dem verschwörungstheoretischen Sumpf zu befreien. (Michael Meyer, 6.11.2018)