Der 9. November 1938 war der Auftakt zum Holocaust. Im gesamten Deutschen Reich kam es zu organisierten Gewaltexzessen gegen die jüdische Bevölkerung, die unter dem euphemistischen Begriff "Reichskristallnacht" bekannt wurden. In Wien fielen die Pogrome besonders brutal aus. Hier wurden in der Nacht von 9. auf 10. November unter tatkräftiger Beteiligung der Bevölkerung mindestens 27 Jüdinnen und Juden ermordet, unzählige misshandelt und gedemütigt und mehr als 6.500 verhaftet. Hunderte Menschen begingen Suizid. Allein in Wien wurden 42 Synagogen und Bethäuser zerstört und tausende jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert.

80 Jahre nach den Novemberpogromen 1938 sollen die Lichtinstallationen des Künstlers Lukas Maria Kaufmann an die zerstörten Synagogen von Wien erinnern.
Foto: Apa/Hans Punz

Zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome sind in den kommenden Tagen zahlreiche Gedenkveranstaltungen geplant. Neben offiziellen Gedenken durch den Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen und das Parlament gibt es wieder den von der Israelitischen Kultusgemeinde organisierten Gedenkmarsch Light of Hope und eine Kundgebung am ehemaligen Aspangbahnhof im dritten Wiener Gemeindebezirk, von dem aus zehntausende österreichische Jüdinnen und Juden in Vernichtungslager deportiert wurden. In diesem Jahr wird auch ein neues einheitliches und dauerhaftes Zeichen zur Erinnerung an die zerstörten Synagogen in Wien gesetzt: An 24 Standorten einstiger jüdischer Tempel werden fünf Meter hohe Lichtskulpturen des Künstlers Lukas Maria Kaufmann aufgestellt, deren verflochtene Formen je nach Perspektive einen leuchtenden Davidstern ergeben.

Lange Leere

Der Weg zu einer sichtbaren öffentlichen Erinnerung an die Novemberpogrome war ein weiter, wie der Historiker Peter Pirker von der Universität Wien sagt. Das erste Erinnerungszeichen auf einer ehemaligen Synagoge entstand 1961 in der Storchengasse im 15. Bezirk, wo eine Gedenktafel die Zerstörung 1938 thematisiert. "In den Medien wurde das damals ignoriert, und die Gedenkveranstaltung war völlig isoliert", sagt Pirker. Der einzige Teilnehmer, der nicht der jüdischen Gemeinde angehörte, war der Bezirksvorsteher, der die Tafel enthüllte. Auch Opferverbände nahmen daran nicht teil. "Bemerkenswert ist, dass es zu dieser Zeit eine starke Welle des Antisemitismus in Österreich gab", sagt der Historiker. "In den folgenden 24 Jahren, von 1961 bis 1985, gab es in Wien keine Erinnerung an die Novemberpogrome im öffentlichen Raum." Gemeinsam mit dem Politikwisenschafter Walter Manoschek und Kollegen hat Pirker im Forschungsprojekt Porem (Politics of Remembrance) die Erinnerungskultur der österreichischen Hauptstadt in der Zweiten Republik kartografiert. Im Fokus steht dabei der Umgang mit der politischen Gewalt des Austrofaschismus und Nationalsozialismus.

Screenshot der interaktiven Karte des Projekts Politics of Remembrance (zur Karte geht es hier). Mithilfe der interaktiven Tools lässt sich die Entwicklung des öffentlichen Gedenkens im Wien der Zweiten Republik nachverfolgen.
Screenshot: Porem

Ergebnisse des Projekts, das vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds finanziert wurde, sind neben zahlreichen Publikationen zwei interaktive Karten, die alle seit 1945 errichteten Denkmäler, Tafeln und Erinnerungszeichen beinhalten und Entwicklungen der Gedenkkultur sichtbar machen. Filter ermöglichen neben einer räumlichen und zeitlichen quantitativen Auswertung auch eine inhaltliche Navigation durch die umfangreiche Datenbank: So wird zwischen Arten des Erinnerns unterschieden. Wird bei einer Gedenktafel an Bruno Kreisky politische Gewalt – seine Haft im Austrofaschismus oder das erzwungene Exil in der Zeit des Nationalsozialismus – thematisiert oder nicht? Was ist präsenter: Gedenken an Verfolgung oder an Widerstand? Wird eher an "positive Orte" des einstigen Lebens erinnert als an Schauplätze von Gewalt? Und wie prominent sind die Zeichen überhaupt platziert?

Neue Akteure

Dabei zeigt sich eine Trendwende ab 1988. In diesem Jahr wurden vor dem Hintergrund der Waldheim-Affäre und des 50. Jahrestags des "Anschlusses" Österreichs an NS-Deutschland die Novemberpogrome erstmals breiter thematisiert, und die Israelitische Kultusgemeinde trat stärker an die Öffentlichkeit. Bis Mitte der 1990er-Jahre übertrafen die Erinnerungen an Widerstandskämpfer und alliierte Soldaten jene an die Opfer antisemitischer und rassistischer Verfolgung aber noch bei weitem. Erst als die österreichische Pflichterfüllungsthese ins Wanken geriet, betraten neue Akteure die Bühne der Vergangenheitspolitik und thematisierten die antisemitische und rassistische Verfolgung stärker – nicht ohne politische Gegnerschaft. Initiativen von Angehörigen, Anrainern und, teils mit großer Verspätung, öffentlichen Institutionen führten ab etwa 2006 zu einem deutlichen Anstieg des öffentlichen Gedenkens an Gewaltopfer. Vor allem personenbezogene Erinnerungszeichen wie die "Steine der Erinnerung", die auf Gehsteigen vor ehemaligen Wohnadressen an Holocaust-Opfer erinnern, prägen die jüngere Entwicklung sichtbar.

Wie ein Faden, der nicht abzureißen vermag, zieht sich auch politischer Widerstand gegen Erinnerungszeichen durch die Geschichte der Zweiten Republik. Ein Beispiel: 2010 stimmte die FPÖ als einzige Partei gegen die Benennung eines Parks im zwölften Wiener Bezirk nach Miep Gies, der in Wien gebürtigen Helferin Anne Franks. Seit 2011 heißt der Park nach der mutigen Frau – erst vor wenigen Tagen wurden die Tafeln mit Informationen zu ihrer Person mit Hakenkreuzen beschmiert.

(David Rennert, 8.11.2018)