Es gibt den Zeitpunkt, an dem man aufbegehren muss, sagt Autorin Ilse Tielsch

Foto: Regine Hendrich

In ihrem Reihenhaus in der Wiener Großfeldsiedlung, wo sie mit ihrem Mann lebt, lässt Ilse Tielsch versöhnlich Jugend und Flucht Revue passieren. Viel mehr noch beschäftigt sie aber die Gegenwart, in der Menschen "um ihr Leben schwimmen" müssen.

STANDARD: Ihr Buch "Das letzte Jahr" ist gerade in dritter Auflage erschienen. Sie beschreiben darin das Jahr 1938, wie eine Neunjährige die Auflösung ihres Heimatorts in Südmähren erlebte. Die Bevöl kerung zerfiel, es ging Tschechen gegen Deutsche und umgekehrt, jüdische Familien verschwanden. Sie haben das erlebt, flüchteten im April 1945 nach Österreich. Sie schreiben versöhnlich, ohne Hass?

Tielsch: Was soll Hass? Was sollte ich hassen? Es hatte bis dahin ein relativ gutes Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen geherrscht, ab da bekam mei- ne kleine Geburtsstadt Auspitz (Hustopeče) einen Riss. Es fing an zu gären, und das bekam ich als Kind mit. Es entstanden die Zwistigkeiten, die es in zweisprachigen Gegenden gibt, es war eine Zeit, in der man spürte, es muss sich etwas klären.

STANDARD: Sie haben rund 25 Bücher geschrieben, es geht darin oft um Familie, Heimat, Flucht.

Tielsch: Ich bin eigentlich Lyrikerin. Über die Ahnenforschung eines Verwandten bin ich aber in die Geschichte unserer Familie eingetaucht, meine Großeltern hatten in Südmähren einen großen Bauernhof, Felder, Weingärten zurückgelassen. Das alles hatte ich als Kind tief in meinem Herzen – und das wollte ich beschreibend festhalten. Das war alles.

STANDARD: Ums Thema Heimat geht es Ihnen nicht?

Tielsch: Nein. Ich habe beschrieben, wo das spielt – aber nicht als Heimatthema. Ich habe die Eindrücke aus meiner Kindheit und frühen Jugend niedergeschrieben, die durch die absolute Entfernung von dort, ich will nicht sagen Vertreibung, Gewicht bekamen.

STANDARD: Warum sprechen Sie nicht von Vertreibung?

Tielsch: Weil ich das nicht politisch bewerten will. Dafür, dass ich nicht über die Vertreibung der Sudetendeutschen spreche, werde ich übrigens nicht nur geliebt. Ich selbst bin im April 1945 mit einem der letzten Züge nach Österreich gekommen und habe da wie dort gute und weniger gute Menschen getroffen. Mein Vater, ein deutscher Arzt, kam im Juni nach Österreich, bis dahin hatte er weitergearbeitet. Als ein Tscheche zu ihm kam und ihn warnte: "Wir können Sie hier nicht mehr länger schützen", marschierten meine Eltern noch in derselben Nacht los. Es gibt überall gute und überall schlechte Leute. Es kommt immer nur auf den Einzelnen an.

STANDARD: Wie war es davor?

Tielsch: Ich konnte als Kind Tschechisch, hatte deutsche, tsche chische, jüdische Freunde und Freundinnen. Ich habe es nicht so erlebt, aber die Volksgruppen haben nebeneinander gelebt: Es gab tschechische, deutsche und gemischte Dörfer. Bei uns in Auspitz haben sich deutsche Familien miteinander getroffen und tschechische. Es gab den deutschen und den tschechischen Sportverein, die haben getrennt gesportelt, wenngleich auf derselben Wiese. Im Großen und Ganzen war die Gesellschaft also getrennt. Aber in meiner Erinnerung war diese Trennung absolut nicht bösartig. Und für die Kinder hat das sowieso nicht gegolten: Die haben sich alle miteinander geprügelt, da kam es drauf an, aus welcher Gasse man kam, und nicht, welche Sprache man gesprochen hat.

STANDARD: Woran merkt man ohne die Weisheit des Rückblicks, dass Zeiten beginnen, in denen man reagieren muss? In denen man sich wehren, andere beschützen oder notfalls weggehen muss?

Tielsch: Ich sehe den Punkt nicht, an dem man generell merken kann, dass man sich anders verhalten oder gar flüchten muss. Meist hat eine Flucht konkrete Gründe, die sich aus der Situation heraus ergeben. Mein Vater etwa hatte Angst, dass es in der Tschechoslowakei zu einem Bürgerkrieg kommen, er einberufen wird und auf Deutsche schießen muss. Diese Vorstellung war ihm, der schon im Ersten Weltkrieg eingerückt war, unerträglich. Deswegen sind wir 1938 nach Wien gegangen, aber nur für kurze Zeit. Wir kehrten dann zurück nach Auspitz und blieben bis 1945. Stellen Sie sich das doch einmal vor: Sie sitzen hier, in diesem Haus, mit dem Garten da draußen. Sie kennen jedes Bröserl hier – und dann kommt eine Regierung, die Ihnen nicht gefällt. Können Sie sich vorstellen, dass Ihnen da jemand sagt: "Komm, wir gehen nach England", und Sie gehen?

STANDARD: Genau darum geht es: um rechtzeitige Erkenntnis.

Tielsch: Ja, es gab in den 1930ern Leute, jüdische Familien, die das rechtzeitig erkannt und so gemacht haben. Es gab auch Künstler, die sich nicht, wie verlangt, von ihrem jüdischen Partner scheiden ließen, sondern mit ihm geflohen sind. Das sind Punkte, an denen man sich so einen Schritt vorstellen kann, an denen man sagt: "Wir gehen fort." Aber wenn ich so einen Grund nicht habe und hoffe, dass der Hitler da oben schon wieder verschwinden wird? Da ist die Veranlassung gering, alles, was man besitzt, zu verkaufen oder zurückzulassen und zu gehen.

STANDARD: Flucht und Migration bewegen Welt und Politik derzeit wie nichts anderes ...

Tielsch: Das ist eine schreckliche Geschichte. Wir sehen die Bilder aus Syrien oder dem Jemen, sehen die zerbombten, zerstörten Häuser – was sollen die Leute dort machen? Sie verkaufen, was sie haben, und suchen sich jemanden, der sie und ihre Kinder nach Europa bringt. Das ist doch klar.

STANDARD: Verstehen Sie die Reaktion derer, die sie zurückschicken wollen?

Tielsch: Nein. Den Leuten hier, uns allen geht es doch so gut. Ich verstehe natürlich die Angst eines Arbeitenden um seinen Job, wenn der in Gefahr ist – aber ich verstehe die generelle Aversion nicht. Ich glaube nicht, dass man Österreich beschützen muss. Nach dem Zweiten Weltkrieg landeten so viele Menschen aus dem Osten in Österreich – die haben sich alle integriert. Natürlich kamen die quasi wie Verwandte hierher, in der Monarchie hatte man ja noch zusammengehört. Ob jemand aus Retz oder Nikolsburg (Mikulov) im heutigen Tschechien kam, war kulturell gesehen kein Unterschied.

STANDARD: Das kann man also nicht mit der Migrationsbewegung von heute vergleichen.

Tielsch: Nein, das kann man natürlich nicht mit der Zuwanderung aus Afrika oder Afghanistan vergleichen. Es kommt auf die Menge der Menschen an, die hier menschlich aufgenommen, in eine Verdienstmöglichkeit gebracht werden und deren Kinder hier in Schulen geschickt werden können. Das Allerallerwichtigste für Integration ist, dass die Leute die Sprache erlernen – in Wort und Schrift. Bei der Sprache findet sich übrigens so ein Punkt, an dem man die Entzweiung von Tschechen und Deutschen einst festmachen kann. Nachdem die Tschechoslowakei entstanden war, mussten die deutschen Beamten in kurzer Zeit Tschechisch in Wort und Schrift beherrschen. Aber wie? Die wenigsten Deutschen konnten perfekt Tschechisch. Genau dasselbe hat dann Hitler gemacht – mit den tschechischen Beamten. Auch so kann man Menschen vertreiben.

STANDARD: Sie sagen: Niemand lernt aus der Geschichte. Sind Sie wirklich so pessimistisch?

Tielsch: Ich bin keine Pessimistin, aber Realistin. Es hat doch noch nie jemand aus der Geschichte gelernt. Es ginge, aber es tut niemand. Sonst sähe die Welt anders aus. Ich habe, als ich meinen Vater 1945 in Österreich wieder traf, zu ihm gesagt: "Wenigstens wird es nie, nie wieder einen Krieg geben." Er antwortete nur: "Das Gleiche hab ich nach dem Ersten Weltkrieg auch gesagt." Und was haben wir heute? Wie geht es heute bei uns zu? Wundert es uns wirklich, dass diese armen Leute in den Kriegsgebieten alles zurücklassen, ihre Kinder an sich drücken und übers Meer nach Europa kommen – nur, um wegzukommen? Mich wundert das nicht. Die schwimmen um ihr Leben.

STANDARD: Und die anderen wollen ihren Wohlstand nicht teilen?

Tielsch: Ich glaube schon, dass es den meisten von uns viel zu gut geht. Die Verteilung der materiellen Güter stimmt auch in Europa nicht. Jeder Obdachlose ist eine Schande für Österreich. Es gibt so viele, die nichts haben von unserem Wohlstand, und wir wollen nichts abgeben davon. So aber ist der Mensch. Der Mensch ist eine Fehlkonstruktion – wer immer ihn erfunden hat.

STANDARD: Wohin man schaut auf der Welt, wählen die Leute heute Populisten, die Mauern und Bollwerke errichten wollen.

Tielsch: Ja, das kommt wieder. Und da gibt es diesen Punkt des Aufbegehrens, von dem Sie gesprochen haben. Da haben wir nur eine einzige Möglichkeit: umdrehen und Rücken zeigen.

STANDARD: Das reicht?

Tielsch: Ja, wenn es viele tun. Man darf solche Politiker nicht wählen, Wahlen sind die einzige Möglichkeit, ihnen Grenzen zu setzen. Und wir dürfen sie auch im Alltag nicht mit unserem Verhalten unterstützen. Man kann ja auch demonstrieren gehen und seine Meinung sagen – ich tue das auch.

STANDARD: Was ist für Sie Heimat?

Tielsch: Zugehörigkeit, aber nicht nur im emotionalen Sinne, sondern besonders im rechtlichen. Heimat bedeutet, das Recht zu haben, wo zu leben, wohin zurückzukehren und zu bleiben. Das ist ungeheuer wichtig und hat mit Heimatgefühlen "Da bin ich zu Hause" nichts zu tun. Das ist der springende Punkt. (Renate Graber, 11.11.2018)