Boykott-"Brecherin" mit Schrifttafel "Dumm und gemein kauf ich noch beim Juden ein" im Oktober 1938, Wien, Taborstraße (Frauennachlässe, Edith Saurer, IfG, Universität Wien).

Foto: Botz

Nun wird am Heldenplatz die Eröffnung des neuen Geschichtsmuseums stattfinden, das 100 Jahre österreichischer republikanischer und diktatorischer Vergangenheiten darstellen soll. Der offizielle Startschuss dafür war erst vor drei Jahren von der alten Koalitionsregierung gegeben worden und wurde durch ein extrem engagiertes Team in einer wahren Herkulesarbeit, trotz allerlei Beschränkungen, punktgenau beendet.

Für österreichische Geschichts-, Identitäts-, Etc.-Politiken ist das höchst begrüßenswert, und es scheint sich dieser Event nahtlos in die anderen Geschichtsjubiläen des Jahres 2018 einzufügen. Noch nie in der republikanischen Geschichte hatte eines der symbolträchtigen Achterjahre offiziell und medial einen bisher so großen Raum eingenommen.

In einer nun weniger zu triumphalistischen Rückblicken herausfordernden politischen Gegenwart sollte aber umso weniger übersehen werden, dass auch darin, wie in manchen anderen historischen Ereignissen, gerade auch in jenen, die sich im November für Österreich (und Deutschland) häufen, auch Widerhaken enthalten sein können. Gerade am selben Kalendertag, an dem es Österreich unternimmt, wissenschaftlich und gestalterisch der Historie seiner letzten 100 Jahre ein neues Gesicht zu geben, war es genau vor 80 Jahren in dem zur "Ostmark" gewordenen Österreich ebenso wie an vielen Orten des "Großdeutschen Reiches" zu verbreiteten Gewaltausbrüchen gegen Juden gekommen.

Pogromartige Situationen

Schon der "Anschluss"-Taumel im März war von pogromartigen Situationen begleitet gewesen, im März 1938 war es vor allem in Wien wie bis damals nirgendwo in diesem Ausmaß im Deutschen Reich zu Szenen roher Gewalt, zu Beraubung und symbolischen Demütigungen ("Reibpartien") gekommen. Aber das war nicht (direkt) von deutschen Nazis angestoßenen worden, sondern spontan vor Ort entstanden.

Dagegen war der Novemberpogrom zunächst von Adolf Hitler und von seinen Unterführern, vor allem von Joseph Goebbels, befohlen. Es hatte zwar auch in den Monaten und Wochen zuvor von deutschen und österreichischen Nazis angeregte antijüdische Propaganda-, Beraubungs- und Boykottaktionen gegeben, und im Herbst 1938 hatten die sogenannte Sudetenkrise, die sichtbar werdende Kriegsgefahr und eine erste politische Widerständigkeit (vor allem beim "Rosenkranzfest" junger Katholiken) zu einer regime- und verfolgungspolitischen Radikalisierung geführt.

Judenhass gegen Nichtjuden

In Wien hatte schon im Oktober der Judenhass solche Ausmaße erreicht, dass er sich nicht mehr bloß gegen Juden direkt richtete, sondern verstärkt auch gegen Nichtjuden, die bei Juden eingekauft oder sonst mit diesen noch einen menschlichen Umgang gepflogen hatten. Deshalb waren von der NSDAP regelrechte Pranger-Märsche veranstaltet worden, wie auf Fotos aus der Tabor- und Mariahilfer Straße belegt ist. So verwundert es nicht, dass in Wien (und anderen österreichischen Städten) der Aufruf, einen antijüdischen "Volkszorn" zum Ausdruck zu bringen, auf besonders fruchtbaren Boden fiel.

Hier waren am 9. November zunächst auf dem abgedunkelten Heldenplatz neue SS-Rekruten zu einem makabren Schauspiel angetreten und mit Fackeln zur Angelobung Am Hof abmarschiert, als aus München die Aktionsbefehle eingingen. Gegen zwei Uhr nachts kamen dann telefonische Anweisungen, wie der Pogrom abzuwickeln sei. Sie wurden, anders als oft fälschlich (und entschuldigend) gesagt wird, nicht in dunkler Nacht, sondern meist erst im hellen Lichte des folgenden Tages auf eine schreckliche Weise ausgeführt.

Die ärgsten Gewalttäter waren Parteifunktionäre, SA-Männer, Hitlerjungen, "brave Parteigenossen", aber auch Nachbarn und biedere "Volksgenossen", meist Männer, aber auch Frauen. Die Mehrheit der nichtjüdischen Bevölkerung mochte die brutalste antijüdische Gewalt nicht immer billigen, schaute weg und wollte "nichts gesehen" haben.

Gewaltexzesse

Einzelne deutsche wie auch österreichische Staats- und Parteifunktionäre lehnten zwar manchmal die in der "Ostmark" vorfallenden Gewaltexzesse ab, vor allem die Vernichtung von Wirtschaftswerten, was das Ansehen "der Partei und des Reiches aufs Schwerste" schädigte. Sympathie oder gar Hilfe fanden die verfolgten Juden nur durch einzelne Nichtjuden.

Das Ergebnis allein in Wien waren 42 durch Brand zerstörte Synagogen und Bethäuser, Hunderte, ja Tausende von "ausgeräumten" Geschäften und Wohnungen und zerschlagenen Glasfenstern. Dazu kamen in Wien allein über 6500 und im übrigen österreichischen Gebiet nochmals 1200 jüdische Verhaftete, von denen viele in Konzentrationslager überführt wurden. Ähnlich waren die Gewaltexzesse auch in Graz und anderen Städten, in denen Juden (damals noch) leben konnten. In Innsbruck wurden vier ortsbekannten Juden sadistisch zu Tode gebracht, in Linz zwei Frauen Opfer direkter sexualisierter Gewalt.

Die genaue Zahl der unmittelbar am 10. November ermordeten Juden ist für Österreich nicht bekannt. Erst anhand einer Auszählung in den Wiener Totenverzeichnissen für November 1938 konnte ein Schätzwert von mindesten etwa 22 Toten errechnet werden. (Nicht inkludiert darin sind Dutzende von Selbsttötungen verzweifelter Juden der Wiener "November-Aktion".)

Besonders brutal

Dieser Befund geht beim Vergleich mit dem "Altreich" anteilsmäßig über die dortigen Opferzahlen hinaus und untermauert die These, dass der Novemberpogrom in Wien besonders brutal und opferreich verlaufen ist. Das war auch ein erschreckendes Omen für die Bereitschaft der "Volksgemeinschaft", den kommenden Krieg und die Vernichtungspolitik gegen Juden, "Zigeuner", "Ostvölker" und andere als "lebensunwert" stigmatisierte Menschen (mit) zu tragen. (Gerhard Botz, 9.11.2018)