Einer von ihnen ist Thomas Beyer, in der DDR aufgewachsen, Physiker und seit 2013 Professor an der Med-Uni Wien. Er hat zehn Fragen an Österreich formuliert. Sein befreundeter Kollege Oliver Rathkolb, Zeithistoriker an der Uni Wien, beantwortet sie.

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Warum toleriert das "Volk" offensichtliche Korruption und Freunderlwirtschaft (siehe Hypo-Alpe-Adria-Bank)?

Das ist eine schwierige Frage, die mit jahrhundertelangen Traditionen des wirtschaftlichen Aushandelns abseits transparenter rechtlicher Regeln und Verträge zu tun hat – und wohl auch als Reaktion gegen starke autoritäre staatliche Strukturen zu deuten ist und auch schon in der Monarchie als Klientelsystem wirksam war. Wenn ich mir aber ansehe, wie Lehman Brothers jongliert und dann Pleite gemacht haben, dann scheint es sich in der Gegenwart um ein globales System zu handeln, durch absurde Risikogeschäfte eine Gewinnmaximierung nochmals maximieren zu wollen. Was in Österreich schon in der Ersten Republik besonders ausgeprägt war, sind Transferzahlungen aus der Wirtschaft an Politiker und Parteien, die es ja auch im Fall Hypo Alpe Adria wieder gegeben hat. So hat der Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber in seinem aktuellen Buch Rothschild: Glanz und Untergang des Wiener Welthauses (Molden-Verlag, 2018) Zahlungen von insgesamt mindestens fünf Millionen Schilling durch Louis Rothschild an verschiedene christlich-soziale und deutschnationale Politiker, u. a. an den Landwirtschaftsminister und späteren Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, und einige Journalisten nachgewiesen. Nach 1945 gab es genügend Gerichtsprozesse, die entsprechende Finanztransfers an Politiker erneut dokumentierten, wobei die ÖVP – vor allem in Wien und Niederösterreich – besonders profitiert hat; aber auch der aus der SPÖ kommende Innenminister und ÖGB-Präsident Franz Olah ist mit diversen Schwarzgeldzahlungen an die FPÖ und Bankgarantien zur Finanzierung der Kronen Zeitung aufgefallen. Erfolgreichen politischen Selbstdarstellern wie ihm und später etwa Jörg Haider in Kärnten hat dies nicht wirklich geschadet. Offensichtlich wollen die Österreicher ihre Bilder von Volkstribunen nicht zerstören lassen und entwickeln sehr schnell Verschwörungstheorien, wer eigentlich an den Skandalen schuld war.

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Warum ist der Wiener/Österreicher so nachtragend?

Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass die Streitkultur in Österreich – und das zeigt sich bei allen Politikerdiskussionen – meist von Emotionen dominiert wird und nicht entlang eines Regelwerks mit sachlichen Argumenten verläuft. Wer regelkonform diskutiert, kann leichter eine Entscheidung akzeptieren, selbst wenn sie einem missfällt. Diese spezifische Situation des Bildes des "grantelnden Wieners" ist wohl eher ein Fremdstereotyp, das aus den Bundesländern stammt, das aber auf den spezifischen Stress in großen urbanen Zentren zurückzuführen ist. In diesem Sinne gibt es durchaus historische Traditionen, die sich wohl auch in anderen Großstädten wiederfinden, wo häufig die Hauptstädter als unbeliebt gelten.

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Ist der Monarchiekult allein der visuellen Schönheit der habsburgischen Gebäude bzw. Schlösser und den Mehlspeisen geschuldet, oder steckt mehr dahinter?

Die österreichische Gesellschaft hat aktuell überhaupt kein Interesse, eine Monarchisten- oder Habsburgerpartei zu unterstützen, wie zahlreiche gescheiterte Versuche der Kandidatur einiger Protagonisten in der Vergangenheit zeigen. Dies hängt wohl auch mit der noch immer in Erinnerung verbliebenen politischen Schwäche der Monarchie 1914 und der irrsinnigen Entscheidung zusammen, mit einer schlecht gerüsteten Armee den Ersten Weltkrieg mitzuentfachen. Gleichzeitig wurden schon nach 1918 die kulturelle Blüte der Monarchie und deren Überreste wie die großen Museen, die Staatsoper, das Burgtheater etc. sofort auch als internationaler Leistungsnachweis für die Erste und dann noch viel mehr für die Zweite Republik übernommen. Symbolpolitisch steht die Republik immer noch auf kulturell imperialem Boden. Seit der Ausstellung Traum und Wirklichkeit im Künstlerhaus 1985 wird dieser Trend mit dem heutigen Exportschlager Wiener Moderne und zuletzt sogar unter Benennung der Leistungen von Künstlern und Wissenschaftern jüdischer Herkunft vertieft. Diese verspätete Rezeption hängt mit dem rassistischen, antisemitischen Verfolgungswahn von 1938 bis 1945 zusammen, ehe diese Protagonisten der Moderne als zentrale Bestandteile des kulturellen Erbes Österreichs anerkannt wurden – und nicht nur das Zeitalter des katholischen Barock und dessen Folgewirkungen im Zentrum der kulturellen Selbstdarstellung standen.

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Woher kommt die manifeste politische Farbkodierung in gesellschaftlichen Beziehungen, und warum wird daran so festgehalten?

Zwar lösen sich die beiden großen politischen Lager der Ersten und Zweiten Republik, die noch aus der Monarchie stammen, auf Wählerebene zunehmend auf, aber im engeren politischen Bereich dominiert nach wie vor die parteipolitische Zuschreibung in Richtung ÖVP oder SPÖ und zunehmend auch in Richtung FPÖ oder Grüne. Gerade bei Schlüsselpositionen, die politische Entscheidungen voraussetzen, dominiert nach wie vor diese Fremdzuschreibung, die die berufliche und persönliche Qualifikation der Betroffenen nicht berücksichtigt. Diese parteipolitische Lagerbildung ist wohl ein Überrest der traditionellen Macht- und Klientelpolitik, die nur wirklich selbstbewusste Spitzenpolitiker von Zeit zu Zeit punktuell durchbrechen. Ein Beispiel aus der Vergangenheit ist Bruno Kreisky, der als Außenminister von 1959 bis 1966 immer wieder qualifizierte Nichtsozialisten in Spitzenpositionen befördert hat und dann auch nach 1970 zum Ärger seiner Partei nichtsozialistische Außenminister bestellt und Kurt Waldheim bei der UN-Generalsekretärswahl unterstützt hat. Hier gibt es trotz der Objektivierungsversuche bei Postenbesetzungen noch viel zu tun.

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Gibt es in Österreich eine graduelle Ausländerfeindlichkeit, die zur geografischen Mitte des vormaligen Habsburgerreiches hin zunimmt (d. h. Richtung Wien und Kärnten)?

Wie auch aktuelle Werteumfragen zeigen, befindet sich die österreichische Gesellschaft in einem vergleichbaren Trend wie vor 1914 während der "ersten Turboglobalisierung", da Migration auch immer eine Neuverhandlung von Wertesystemen und Identität bedeutet. Die Politik hat darauf lange mit viel zu wenig Engagement und konkreten Bildungs- und Sozialmaßnahmen reagiert oder dieses Thema einfach zu einer populistischen Gesamtagenda hochargumentiert. Zwar ist Österreich, wie Heinz Faßmann und Rainer Münz bereits 1993 nachgewiesen haben, ein "Einwanderungsland wider Willen". Kein Innenminister der Zweiten Republik hat aber versucht, ein Einwanderungsgesetz zu entwickeln, da die politische öffentliche Reaktion auf Migration als negativ eingeschätzt wurde.

Dieser Verdrängungsprozess dominiert seither immer wieder wellenartig die negative bis zurückhaltende Einstellung gegenüber "Ausländern". Gerne wird heute mit der alten "guten" Migration vor 1914 als Binnenmigration argumentiert, was natürlich eine Ausrede ist, da die Debatte gegen Böhmen, Mährer, Polen, Juden etc. mit denselben ausgrenzenden Zuschreibungen geführt wurde wie heute gegen Ausländer. Was den Österreichern fehlt, ist ein Verfassungspatriotismus wie in der Bundesrepublik Deutschland, wo er allerdings aktuell wieder im Schwinden ist, obwohl er das Wiederaufbauwunder um das Bonner Grundgesetz seit 1949 lange begleitete. Francis Fukujama, der politische Philosoph, der uns nach dem Ende des Kalten Krieges das Ende der Geschichte und den globalen Sieg der Demokratie prognostiziert hatte, forderte jüngst mit ähnlichen Worten wie 1919 der einflussreiche Verfassungsjurist Hans Kelsen im Jahr der ersten demokratischen österreichischen Verfassung diesen Verfassungspatriotismus ein, um die Migrationsdebatten und die dahinterstehenden, höchst emotional ethnisierten und teilweise religiösen Debatten und Konflikte zu entschärfen und ein gemeinsames nüchternes Staatsbewusstsein zu entwickeln. Nach Kelsen muss auch eine gegenteilige Meinung zumindest für möglich gehalten werden, da es die absolute Wahrheit nicht gibt. Minderheitenschutz sei "die wesentliche Funktion der sogenannten Grund- und Freiheits- oder Menschen- und Bürgerrechte".

Beide genannten Grundsätze sind rechtsstaatliche zentrale Prinzipien für unsere parlamentarische Demokratie, die gerade in der Gegenwart wieder besondere Bedeutung gewonnen haben und auch auf europäischer und internationaler Ebene Gültigkeit haben. Wir sollten zumindest versuchen, etwas aus der Geschichte seit 1918 für die Gegenwart zu lernen und einen der Demokratie verbundenen Verfassungspatriotismus in Österreich und auf europäischer Ebene zu leben, der sich den internationalen Prinzipien der Vereinten Nationen verpflichtet sieht.

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Sind Nichtwiener die besseren Österreicher?

Da ich 18 Jahre lang im Waldviertel aufgewachsen bin und seither in Wien lebe, kann ich hier nur eine subjektive Antwort geben. Ich sehe das Ansteigen an regionaler Identität zunehmend auch als Reaktion auf Globalisierungsängste und negative Integrationseffekte, da die regionalen und teilweise uralten Identitäten als Vorarlberger, Tiroler, Kärntner, Salzburger, Steirer, Ober- oder Niederösterreicher viel positiver besetzt sind als die gesamtstaatliche oder gar die europäische Identität. Selbst das "junge" Burgenland (siehe dazu Seite 7) hat bereits eine starke Landesidentität entwickelt. Das ist auch einer der Gründe, warum die Landtage und Landesregierungen eigentlich seit 1995 an formaler politischer Macht verloren, aber an realpolitischer Wirksamkeit gewonnen haben, da sich die Menschen durch Landeshauptleute besser "beschützt" und vertreten sehen als durch zentralstaatliche Akteure. Daran wird wohl auch die angekündigte Verwaltungsreform scheitern, obwohl damit viel Geld im gemeinsamen Budget gespart werden könnte. Letztendlich leben die Österreicher, obwohl es ihnen nicht bewusst ist, in einem Mix von "Mehrfachidentitäten", der durch Migration noch komplexer wird.

Diese konstruierten Wertesysteme bilden die Basis von Identitäten, die in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krise immer zu Konflikten führen. Vielleicht ist der skizzierte Verfassungspatriotismus, wenn er positiv aufgeladen wird, ein gangbarer Weg, um in dem Konvolut von Mehrfachidentitäten eine gemeinsame Basis des Zusammenlebens zu schaffen – gerade in einer Welt, in der individuelle Partikularinteressen, die Rückbesinnung auf Familie und Freunde gemeinsame solidarische Strukturen oder politische Ziele auflösen oder zumindest zurückdrängen.

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Warum sind die Intellektuellen so schweigsam?

Die Intellektuellen in Österreich sind keineswegs schweigsam, ganz im Gegenteil sorgen sie immer wieder für gesellschaftliche Aufregung – sei das in der Debatte um die Kriegsvergangenheit von Kurt Waldheim ab 1986 oder 1988 mit dem Stück Heldenplatz von Thomas Bernhard am Burgtheater. Zuletzt haben Schriftsteller wie Michael Köhlmeier und Peter Turrini mit ihrer Kritik an politischen Entwicklungen sogar die Boulevard- und Gratiszeitungen erreicht. Zutreffend ist allerdings, dass die gesellschaftliche Orientierung an derartigen intellektuellen Debatten – verglichen mit den 1970er-Jahren – heute abnimmt und gleichzeitig Tabubrüche aus dem intellektuellen Kulturbereich nur mehr für kurze Irritationen sorgen, ohne nachhaltige gesellschaftliche Neupositionierungen auszulösen, wie sie noch in den "Waldheim-Jahren" erfahrbar wurden. Die österreichische Gesellschaft ist im Zuge der digitalen Überflutung ziemlich abgestumpft und folgt eigentlich lieber ganz anderen Botschaften als jenen der politischen Aufklärung und Demokratisierung, auch wenn autoritäre Einstellungen abgenommen haben und die Suche nach dem "starken Mann" nicht mehr so wichtig erscheint – dies aber auch vielleicht deshalb, weil klare Führungsangebote dominieren.

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Leb(t)en in Österreich die "besseren" Nazis?

Die NSDAP hat in Österreich erst ab 1932 wirklich an Bedeutung gewonnen und war dann auch ab 1933 eine terroristische Organisation, die blutige Attentatsserien verübte und den Kanzlerdiktator Engelbert Dollfuß bei einem Putschversuch im Juli 1934 ermordete. Aus dieser Zeit des Parteiverbots und der Internierung tausender NSDAP-Mitglieder vor 1938 stammen eine Reihe von Seilschaften, die zwar nicht die erhoffte politische Karriere machten, da die wichtigsten Spitzenpositionen in der "Ostmark" von "altreichsdeutschen" Nazis besetzt wurden, aber dafür in den besetzten Gebieten (wie Arthur Seyß-Inquart in den Niederlanden) oder in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern eine blutige Spur der Verfolgung und des Holocaust quer durch Europa zogen. Simon Wiesenthal hat 1966 in einem Memorandum an Kanzler Josef Klaus zu Recht auf diese Seilschaften hingewiesen, da die Justizbehörden zu wenig über das "Ausmaß der Verbrechen, die von Österreichern in Tateinheit mit Deutschen während des 2. Weltkrieges nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen Angehörige anderer Nationen begangen wurden, auch nicht annähernd ausreichend informiert sind".

Sehr zum Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland nach 1949 wurde aber das Ausmaß der Täterschaft von ehemaligen Österreichern bei nationalsozialistischen Kriegsverbrechen und im Holocaust nach einer kurzen Phase der gerichtlichen Verfolgung von 1945 bis 1947 viel zu wenig öffentlich thematisiert und von der Opferdoktrin, dass letztlich alle Österreicher Opfer der "Preußen" und "Hitlers" gewesen waren, überlagert. Erst Mitte der 1980er-Jahre setzte die Dekonstruktion dieser Selbstviktimisierung ein.

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Warum werden in Österreich die öffentlichen Diskussionen so lasch geführt; warum sagen so wenige ihre Meinung klar und stellen sich einer Debatte? Warum gibt es keine öffentliche Streitkultur?

Ich sehe das etwas anders. Ich glaube, das Problem österreichischer Diskussionen ist, dass sie einzelne Themen ins Zentrum stellen und diesen alle anderen unterordnen. Heute beispielsweise dominiert der Komplex Migration und Asyl alles, obwohl das natürlich nur ein Thema unter vielen ist, aber der gesamte Blick auf die künftige Entwicklung Europas und der Welt in Zeiten der Turboglobalisierung, getrieben von der digitalen Revolution, geht dabei verloren.

Vor allem dominiert in Österreich die Tendenz der Gesamtproblemverdrängung, und zunehmend geht auch jede europäische oder internationale Diskussion verloren. Während Fake-News und Verschwörungstheorien heute von vielen beklagt werden, haben wir uns in Österreich schon daran gewöhnt. Ruhige und faktenbasierte Analysen und Debatten gehören hierzulande leider nicht zur politischen Kultur. In diesem Sinne sind wir "Vorreiter", aber viele andere Länder in Europa ziehen nach!

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Hat Österreich Angst vor seiner eigenen Geschichte?

Absolut, ja – wie ist es sonst erklärbar, dass sich eines der reichsten Länder der Welt weder vor Umweltkatastrophen aufgrund des Klimawandels noch vor massiven Änderungen der sozialen Wohlfahrtsvorsorge fürchtet, sondern – wie Werteumfragen zeigen – nur ein Thema kennt: Migration und Asyl sowie politischer Islam und Terror. Offensichtlich gibt es einen Minderwertigkeitskomplex trotz hoher Patriotismuswerte und Akzeptanz des Kleinstaats. Dieses manchmal überhöhte Nationalbewusstsein wird aber durch Globalisierungsängste und konkrete Globalisierungseffekte derart erschüttert, dass für viele Menschen nur die Rückkehr des scheinbar sicheren nationalen Kleinstaates – mit starken Bundesländeridentitäten – Schutz und Zukunft bedeutet. Dass das eine Flucht vor der Realität ist, wird sich bald herausstellen, aber derzeit haben sich die Österreicher auf die Insel der Seligen zurückgezogen, obwohl der nationale Wohlstand stark auf den internationalen Entwicklungen während des Kalten Kriegs basiert.

Während wir schon 1955 der Uno als Vollmitglied beigetreten sind, in der Zeit der ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus den dritten Uno-Sitz in Wien durchgesetzt haben, den dann SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky gegen viele Widerstände realisierte, haben wir uns schon lange vor der aktuellen Debatte um den "Globalen Pakt für sichere, geregelte und reguläre Migration" von der internationalen Bühne zurückgezogen. Das politische Engagement auf der Ebene der Vereinten Nationen ist deutlich geringer geworden. (Oliver Rathkolb, 11.11.2018)