Alle EU-Bürger unter ein Rechtsdach zu setzen hielte Ulrike Guérot für eine konsequente Weiterentwicklung der EU.

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Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft lädt am Donnerstag und Freitag zu einer Tagung über "Subsidiarität" in Bregenz. Ein Begriff, der irreführend sein kann, meint die Politologin Ulrike Guérot. Vor allem, wenn man sich in dieser Diskussion von der EU entferne, anstatt darüber zu reden, wer eigentlich was entscheiden solle.

Guérot erinnert daran, dass bereits in den 90er-Jahren die "Union der Bürger" in den EU-Verträgen genannt wurde. Hätte man bereits damals für alle Bürger in der EU Rechtsgleichheit hergestellt, wären viele Probleme von heute obsolet. Großbritannien könnte beispielsweise theoretisch aus der EU aussteigen, während seine Bürger EU-Bürger bleiben könnten. Die EU sei insgesamt ein riesiges Erfolgsprojekt, das aber derzeit stagniert: "Wir sind zwei Drittel des Weges gelaufen, haben den europäischen Markt und die europäische Währung." Der letzte Schritt hin zu in eine europäische Staatlichkeit stehe nun bevor.

STANDARD: Die österreichische Regierung hat sich "Subsidiarität" als eines der Leitprinzipien ihrer Ratspräsidentschaft und EU-Politik erkoren. Was steckt hinter diesem sperrigen Begriff?

Ulrike Guérot: A priori ist Subsidiarität erst einmal etwas Gutes, um in der Europapolitik zu bezeichnen, dass Brüssel das Große machen soll und das Kleine die anderen. Eigentlich meint man damit ja, was wir in Österreich als Föderalismus kennen. Föderalismus wie Subsidiarität kann aber nur funktionieren, wenn es einen europäischen Rechtsrahmen gibt. Wenn klar zugewiesen ist, was welche Ebene macht. Wenn wir in Österreich über Europa reden, hat man aber aktuell immer den Beigeschmack eines nationalen Geheges, in dem man sein Ding alleine macht, und Europa ist irgendwo da oben.

Der erste europäische Subsidiaritätsgipfel in Bregenz, den die österreichische Ratspräsidentschaft veranstaltet, scheint den Subsidiaritätsbegriff noch einmal in den öffentlichen Diskurs stellen zu wollen. Aber meint man mit dem Begriff ein Herausnehmen aus der europäischen Rechtssetzung, oder meint man damit eine Art Multi-Level-Gouvernance? Ich möchte als Politikwissenschafterin darauf hinweisen, dass man nur dann von Subsidiarität sprechen kann, wenn vorher die Frage geklärt ist, wer entscheidet. Deswegen müsste man eigentlich darüber nachdenken, wie man zu einer intelligenten Verknüpfung von Souveränität und Subsidiarität kommt. Und dafür müsste man den Bürger als Souverän Europas endlich einmal ernst nehmen. Das Demokratiedefizit der EU liegt darin, dass es keine direkte legitimatorische Rückkoppelung zwischen Bürgern und EU gibt. Das alles hat mit Subsidiarität nichts zu tun.

STANDARD: Europäische Souveränität ist ein Begriff, den der französische Präsident Emmanuel Macron ganz nach vorne stellt.

Guérot: Ich finde es interessant zu sehen, dass die österreichische Ratspräsidentschaft auf diese Reden von Macron so gut wie gar nicht eingeht. Der starke Fokus auf Subsidiarität ist ein Hinweis darauf, dass die österreichische Ratspräsidentschaft ein Europabild hat, das auf ein Herausnehmen aus der europäischen Rechtssetzung zielt. Macron umgekehrt thematisiert ganz stark die Einigkeit, Demokratie und Souveränität Europas. Auch vorher hat er beispielsweise schon ein Eurobudget, einen Eurofinanzminister, eine europäische Armee gefordert. Aber wer würde über solche Dinge entscheiden? Das könnte in letzter Konsequenz nur ein europäisches Parlament sein, in dem die europäische Bürgerinnen und Bürger das Sagen haben, unabhängig davon, wo sie sitzen.

STANDARD: Sie plädieren auch für das Prinzip einer europäischen Staatsbürgergemeinschaft. Davon sind wir aber meilenweit entfernt.

Guérot: Schon 1967 hat der konservative Historiker Theodor Schieder eine Rede gehalten, in der er sagte, eine Nation sei nicht in erster Linie Ethnie, Kultur oder Sprache, sondern eine Staatsbürgergemeinschaft. Der Begriff der "Union der Bürger" findet sich außerdem auch im Vertrag von Maastricht von 1992. Ich verweise also nicht auf etwas Neues, sondern darauf, wo wir eigentlich ursprünglich hinwollten.

Wenn wir den Maastrichter Vertrag damals ernst genommen hätten und nicht nur eine "Union of State", sondern auch eine "Union of Citizen" gemacht hätten, dann könnte jetzt theoretisch Großbritannien als Staat austreten und die Briten weiterhin europäische Bürger bleiben. Dann hätten wir jetzt einige Probleme weniger: Was machen wir mit den Europäern, die in Großbritannien arbeiten? Was machen die Briten mit den Ferienhäusern in der EU? Zur Lösung all dieser Fragen kommen Sie mit dem Begriff der Subsidiarität nicht weiter. Dass die europäischen Bürger noch nicht gleich sind vor dem Recht, ist derzeit auch das große Thema in der Wissenschaft. Wenn immer wieder vom europäischen Bürger gesprochen wird, der doch endlich mal zu den EU-Wahlen gehen soll, werden wir nicht umhinkommen, uns dieser Debatte auch auf politischer Ebene zu stellen.

STANDARD: Langsam läuft der EU-Wahlkampf an. Sehen Sie eine Chance, dass diese Themen darin vorkommen?

Guérot: Ja. Wenn ich die Menschen bei meinen Vorträgen innerhalb Europas frage, ob sie sich eine europäische Staatsbürgergemeinschaft, einen europäischen Mindestlohn oder eine europäische Arbeitslosenversicherung vorstellen können, dann laufe ich offene Türen ein. Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie – das ist die nächste logische Weiterentwicklung der EU. Ich habe immer wieder den Eindruck: Die Bürger haben Lust darauf. Das Problem sind die nationalen Politiker, die sich diesen Denkraum einfach nicht eröffnen und mit Worthülsen wie "Subsidiarität" ihre eigene Macht schützen.

STANDARD: Die Umfragen sehen für 2019 ein Erstarken der Liberalen und der Rechten voraus, bei gleichzeitigen massiven Verlusten. Was erwarten Sie von einem Europaparlament in dieser Zusammensetzung?

Guérot: Die sogenannten Nationalisten oder Populisten sind immer noch nur eine laute Minderheit, je nach Land so um die 30 Prozent. Ein Drittel von drei Dritteln. Wir reden aber nur über diese laute Minderheit, und so haben wir den Eindruck, dass Land um Land in die Hände der Populisten fällt. Wir schauen auch auf die Blockadesituation im Europäischen Rat – auf die Positionen Ungarns oder Polens –, aber übersehen dabei, dass das nicht die Mehrheitsstrukturen der Länder abbildet. Die polnische PiS-Partei repräsentiert nur ein Drittel der Polen. Deswegen geht mein Bestreben dahin zu überlegen, wie wir die eigentlichen Mehrheitsverhältnisse besser abbilden könnten.

STANDARD: Steht das Projekt EU derzeit auf der Kippe?

Guérot: Die EU ist, bei allen Problemen, eine riesengroße Erfolgsgeschichte. Trotzdem müssen wir schauen, wie wir das Ding zum Laufen bringen. Wir sind zwei Drittel des Weges gelaufen, haben den europäischen Markt und die europäische Währung. Das Projekt taumelt jetzt, weil es den letzten Schritt zu gehen nicht bereit ist. Deswegen haben wir auch diese Renationalisierungsdiskurse. Aber alles, was die Bürger gerne hätten, wie ein starkes Europa für Frontex, gegenüber China, in der Digitalunion, für Innovation: Wenn wir den Sprung in eine europäische Staatlichkeit machen würden, würden wir den genau gleichen Gewinn daraus ziehen wie damals, als wir den Euro eingeführt haben. Um diesen Sprung schleichen wir herum wie die Katzen um den heißen Brei.

STANDARD: Auch der Euro war bis zuletzt hart umkämpft.

Guérot: Ja, die Euroeinführung war auch kein Ponyritt. Natürlich hat die europäische Rechtsgleichheit auch ihren Preis. Die anderen Projekte haben immer etwas "gebracht". Die europäische Demokratie bringt Kosten und Machtverlust für einige Politiker. Wir bekommen aber auch ein gestärktes Europa, in dem die Demokratie funktioniert und das von den Bürgern getragen wird. Und Rechtsgleichheit heißt nicht Zentralisierung. Ich bin aus dem Rheinland, ich teile mit den Menschen in Bayern nur die Rechtsgleichheit, nicht die Kultur. Ein Europa zu denken, in dem wir als Bürgerinnen und Bürger die Rechtsgleichheit teilen würden, hat mit dem Man-nimmt-mir-die-Heimat-weg-Gerede der FPÖ nichts zu tun. Natürlich soll Europa nicht alles entscheiden. Europa ist Einheit in Vielfalt. Die Einheit wäre nur die Rechtseinheit, die Vielfalt ist eine kulturelle. (Manuela Honsig-Erlenburg, 15.11.2018)