Wien – "Schlussendlich war ein Fenster in dem Kinderzimmer im siebenten Stock sperrangelweit offen", fasst Nicole Baczak, Vorsitzende des Schöffensenates im Prozess gegen Marcus B. und Doris T. den Sachverhalt, der am 26. April in Wien-Donaustadt zum Tod eines Vierjährigen führte, recht konzis zusammen. Das Paar ist wegen Vernachlässigen eines Unmündigen angeklagt: Sie sollen B.s leiblichen Sohn in dessen Zimmer geschickt haben, wo das Kind auf einen Sessel stieg, zunächst Spielsachen aus dem offenen Fenster in den Hof warf und schließlich abstürzte.

Nach dem tödlichen Fenstersturz eines vierjährigen Buben standen dessen Vater und die Ziehmutter vor Gericht. Das Paar musste sich wegen grober Vernachlässigung der Aufsichtspflicht mit Todesfolge verantworten.
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Die Stimmung im Saal ist recht aufgeheizt. Neben den unabhängigen Zuhörern scheinen drei Gruppen vertreten: jene, die auf Seiten B.s stehen, die Unterstützer der Zweitangeklagten sowie Verwandte und Bekannte der leiblichen Mutter des toten Kindes, die sich dem Verfahren als Privatbeteiligte angeschlossen hat und rund 38.000 Euro als Trauerschmerzensgeld und für Begräbniskosten will. Immer wieder kommt es zu Unmutsäußerungen, bis die Vorsitzende am Nachmittag schließlich auch Saalverweise erteilt.

Unübersichtliche Familienverhältnisse

Baczak beginnt mit der Einvernahme von T., der Stiefmutter, die sich grundsätzlich schuldig bekennt. Zunächst werden die etwas unübersichtlichen Familienverhältnisse skizziert. T. hat einen leiblichen Sohn mit einem anderen Mann, der in einer Wohngemeinschaft lebt. Mit ihrem Mitangeklagten war sie rund vier Jahre zusammen, kümmerte sich auch um dessen Sohn, und sie bekamen eine gemeinsame Tochter. Gleichzeitig soll es aber auch einen juristischen Streit um B.s Sohn aus der früheren Beziehung gegeben haben: Das Obsorgerecht wechselte, die leibliche Mutter soll am Ende darauf verzichtet haben.

Möglicherweise ein Mitgrund: Der Vierjährige war nach Angaben von T. sowie seiner leiblichen Mutter kein einfaches Kind. Durch Sauerstoffmangel bei der Geburt litt er an Entwicklungsverzögerungen und war oft unruhig. Daher kümmerte sich auch das Jugendamt um die Familie B.-T.: Am Vorfallstag waren zwei Betreuerinnen zu Besuch.

6.000 Euro Schulden wegen Schwarzfahrens

Nach deren Abgang gegen 12.30 Uhr sei der Bub aufgeregt gewesen, schildert die Zweitangeklagte unter Tränen. Sie selbst habe im Wohnzimmer Telefonate führen müssen, unter anderem mit den Wiener Linien, bei denen sie 6.000 Euro Schulden durch Schwarzfahren angehäuft hatte. "Ich habe ihn zum Anziehen geschickt, weil wir dann einkaufen gehen wollten", sagt sie. Das Kind machte, was ihm geheißen, danach sei es noch aufgewühlter gewesen. "Er hat mit einem Regenschirm vor meinem Gesicht gespielt. Da habe ich dann gemacht, was das Jugendamt gesagt hat: ihn fünf Minuten in sein Zimmer geschickt, damit er sich beruhigt."

Dass das Fenster offen gewesen sei, habe sie nicht gewusst, da die Fensterobsorge B.s Aufgabe gewesen sei. "Ich hatte, seit wir im Oktober eingezogen sind, immer Angst vor dem Fenster, daher haben wir den Griff im Kinderzimmer abmontiert." Ihr Partner habe die Wohnung gelüftet, wenn die Familie das Haus verließ, um den Geruch der beiden Hunde und zweier Katzen zu vertreiben.

"Ja, aber wenn immer gelüftet wird, bevor man das Haus verlässt, hätten Sie ja damit rechnen müssen, dass das Fenster offen steht", hält die Staatsanwältin der Unbescholtenen vor. "Ich habe wirklich nicht daran gedacht, wegen des Besuchs des Jugendamts und den Telefonaten", entschuldigt sie sich.

Partner wickelte Tochter

Ihr ehemaliger Lebensabschnittspartner bekennt sich dagegen nicht schuldig. Die Argumentation seiner Verteidigerin: Er sei mit dem Wickeln der gemeinsamen Tochter beschäftigt gewesen und habe gar nicht registriert, dass der Sohn in das Zimmer geschickt wurde.

Sein Auftritt gestaltet sich dann aber etwas anders. "Wir haben ein Ritual, dass wir dreimal täglich lüften wegen den Hunden und Katzen", erklärt er. Den Fenstergriff verwahre er im elterlichen Schlafzimmer auf, in der Früh habe er damit immer das Kinderzimmerfenster geöffnet, seinen Sohn dann geweckt und aus dem Zimmer genommen.

"Seit wann war es am 26. April offen?", will Baczak wissen. "Seit 7 oder 8 Uhr." – "Wer hat es geöffnet?" – "Das weiß ich nicht mehr." – "Wer machte es normalerweise?" – "Ab und zu ich und ab und zu sie", behauptet der zweifach vorbestrafte Erstangeklagte. Eine Aussage, die er später auf Nachhaken der Staatsanwältin revidiert: Es sei doch nur er für das Kinderzimmerfenster zuständig gewesen. "Anscheinend habe ich an diesem Tag vergessen, dass das Fenster offen ist."

Belastende Aussage gegenüber Polizisten

Seiner Darstellung nach sei das aber kein Problem gewesen, da auch die Kinderzimmertür keine Schnalle hatte. Nur wie der Sohn am Vorfallstag überhaupt in sein Zimmer gelangte, bleibt offen. Belastet wird B. auch durch das Protokoll eines Polizisten, der ihn unmittelbar nach dem Tod des Kindes befragte. Dem erzählte der Angeklagte nämlich, dass Fenster sei immer stundenlang offen gestanden, auch wenn der Bub im Zimmer gewesen sei. Das stimme nicht, er sei damals unter Schock gestanden und habe Beruhigungsmittel bekommen, entgegnet B. recht aufgebracht dem Privatbeteiligtenvertreter, der ihm das Protokoll vorhält.

Baczak vertagt auf den 12. Dezember, um sowohl den Polizisten als auch die beiden Jugendamtsmitarbeiterinnen als Zeugen zu hören. (Michael Möseneder, 15.11.2018)