Anhängerin von Selahattin Demirtaş, der aus dem Gefängnis für die türkischen Präsidentschaftswahlen 2018 kandidiert hat. Am 12. Dezember wird sein Prozess fortgesetzt.

Foto: Lefteris Pitarakis

Dass Selahattin Demirtaş ein ausgesprochen guter Mensch ist, hatte ihm sogar unser Nato- und Geschäftspartner und verlässlicher Flankenschutz in Flüchtlingsfragen, das AKP -Regime in Ankara, attestiert. Und zwar in Form eines Haftbefehls. Seit zwei Jahren ist der Men schenrechtsanwalt und ehemalige Kovorsitzende der Oppositionspartei HDP im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne eingesperrt. Dort schrieb er seinen ersten Erzählband, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt.

Ein guter Mensch ist nicht zwingend ein guter Dichter. Doch die Bedenken, dass sich ein idealistischer Politiker im litera rischen Fach durch Gesinnungstexte vergreift, verflüchtigt sich schon bei der ersten Geschichte. Ein Gesinnungstext zwar, aber kein Griff daneben ist diese def tige Tierfabel namens Der Mann in uns, die den Zweifrontenkrieg einer Sperlingsmutter im Gefängnishof beschreibt, gegen die "Staatsvögel", die ihr Nest rauben wollen, und gegen ihren Machogatten, der gegen das System schimpft, doch sie weder gegen dieses verteidigt noch beim Nestbau hilft.

Demirtaş geht also auch mit dem Patriarchat der Linken ins Gericht, und dass dieses auch dort ein Auslaufmodell sein muss, hat im letzten Jahrzehnt die weibliche Dominanz in der ostanatolischen Zivilgesellschaft bewiesen. Als Dichter agitiert Demirtaş nicht, der Politiker tritt hinter den Er zähler zurück; wenn sich so etwas wie ein ethisches Manifest aus den Kurzgeschichten herauslesen lässt, dann ist es ein zutiefst feministisches. Schließlich hat er sein Buch "allen misshandelten und ermordeten Frauen" gewidmet.

Porträts von Frauen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten überwiegen in dem Büchlein, das seinen künstlerischen Wert nicht schuldig bleibt. Der Autor bedient sich verschiedener Genres und Erzählperspektiven, etwa des magischen Realismus bei der Erzählung eines ertrunkenen syrischen Mädchens, dass sich in eine Mittelmeerjungfrau verwandelt hat, oder der titelgebenden Story Seher (türk. Morgengrauen): Oft ist sie erzählt worden, die Geschichte vom Ehrenmord. Doch wie schafft man es, die unfass bare Tragik patriarchaler Frauen verachtung so zu schildern, dass sie weder das Entsetzen abstumpft noch voyeuristisch anstachelt?

Hölle der Männergesellschaft

Durch einen dramaturgischen Trick: Die ersten Seiten lesen sich beinahe wie ein Groschenroman, zu sehr kriecht der Autor in die Haut seiner verliebten Heldin, zu süßelnd-harmlos wird ihre reine Seele illuminiert. Doch spätestens als der Bruder und der Vater beim Frühstück einander nicht in die Augen sehen können, weil sie am Vorabend im selben Bordell waren, weiß man, dass die Geschichte nun kippen wird und der Traum eines Mädchens vorbei ist, das der Hölle der Männer gesellschaft durch die Liebe zu dem einen entfliehen wollte, der doch anders ist und sie respektieren und lieben würde. Ebendieser vergewaltigt sie mit seinen Kumpels im Wald. Die sich nun über schlagenden Ereignisse erzielen durch die teilnahmslose Distanz des Erzählers ihre stärksten Effekte. Die Mutter, die bei den Männern der Familie ihr Leben gegen das der Tochter eintauschen will, wird das ihre jedenfalls behalten.

Ein dünnes Bändchen nur, doch die zwölf Texte umspannen eine Welt. Die Bemühungen und Selbsttäuschungen ihrer Prota gonisten, ihr Anrennen gegen politische und Zwänge der Tradition schildert Demirtaş mit der durch Ironie angerauten Stimme der Menschlichkeit und Zu versicht. Da ist zum Beispiel die Putzfrau Nazar, die unverhofft in eine Demonstration gerät und die Staatsgewalt in Form eines Polizeiknüppels zu spüren bekommt. Einen Großteil ihrer Bildung bezog sie aus den Autozeitschriften ihres Vaters, und Autos sind auch der Referenz rahmen, mit welchem sie die Menschen um sich bewertet. Den Sanitäter im Krankenwagen beschreibt sie so: "Er ist kein unhübscher Kerl, mit zurückgegelten Haaren. Steckt wahrscheinlich ein Heidengeld in sein Aus sehen und hat dafür kein Auto."

Ein kleines Meisterwerk

Ein kleines Meisterwerk sind die ungewöhnlich montierten Wunschfantasien des ewigen Studenten, der beim Suizid mindestens so erfolglos ist wie bei den Frauen, denen entgegen- und nachzuschmachten zum Inhalt seiner Realitätsflucht geworden ist – und schwer lässt sich dem Charme folgender Sätze widerstehen: "Mit der inneren Befriedigung, den täglichen Selbstmordversuch erledigt zu haben, ging ich in die Küche, schlug drei Eier in die Pfanne und frühstückte." Ganz gleich ob unter Karrieredruck leidende Architektinnen, pfiffige Lkw-Fahrer oder ums Überleben kämpfende Flüchtlinge aus Aleppo, das Personal von Demirtaş wendungsreichen Geschichten bildet nicht etwa die türkische oder kurdische Gesellschaft ab, sondern ein ab straktes Mosaik an Charakteren, die sich selbst nicht aufgeben.

Ihre Schicksale berühren und bewegen – in einem allgemeineren Sinn aber als in dem der automatisierten Wohlfühlattribute rührend und bewegend, durch die Erbauungsliteratur an unerträglicher Wirklichkeit schmarotzt. Im Gegenteil zeigen sie, wie sich Humanität erhalten lässt, ohne den Blick von der Brutalität der Gesellschaft zu wenden. Das unterscheidet gute Texte von Rührstücken, und das unterscheidet gute widerständige Praxis vom selbstgefälligen Moralismus.

Pessimismus des Denkens, Optimismus der Tat, dieser Grundsatz Antonio Gramscis wird in dieser unerfreulichen Zeit von wenigen glaubwürdiger gelebt als vom Ex-Kovorsitzenden der HDP (dass die Parteispitze und die meisten Führungs positionen in den kurdischen Städten Ostanatoliens von einem Mann und einer Frau besetzt werden, im konkreten Fall von Demirtaş und Figen Yüksekdağ, wurde von den westlichen Medien meist verschwiegen, die ausschließlich vom "kurdischen Obama" berichteten).

In der Erzählung Das Ende wird fantastisch erinnert Demirtaş anhand eines jungen Arztes, der in Boston einen Vortrag über das bis zu seiner Zerstörung erfolgreiche Selbstverwaltungssystem in der südosttürkischen Stadt Cizre halten soll, auch seine eigene Politisierung. Und liefert zugleich den Schlüssel zum Verständnis, warum Europa sein schlechtes Gewissen über eine fallengelassene Zivilgesellschaft mit dem Staatsmärchen vom nationalen Konflikt zwischen den Kurden und den Türken sediert.

Inwieweit nämlich die basisdemokratische zivile Transformation der kurdischen Gesellschaft in den Städten des Ostens irgendwann mehr oder minder von der PKK inspiriert war, soll über gelebte soziale Demokratie hinwegtäuschen; und dass Demirtaş und seine Partei geflissentlich als prokurdisch tituliert werden, darüber, dass es sich um die erste und letzte demokratische und dezidiert antinationalistische Kraft handelte, welche allen Menschen in der Türkei, Gewerkschaftern, LGTB, kritischen Intellektuellen, den Überresten der Gezi-Park-Bewegung bis zu gemäßigten Muslimen Obdach gab.

Vor nichts graute der AKP mehr als vor diesem humanistischen Diffundieren ihrer ideologischen Feindbilder, die sie so notwendig braucht wie der Schimmel die Feuchtigkeit. Kein einziges Mal erwähnt Selahattin Demirtaş konsequenterweise die ethnische und konfessionelle Zugehörigkeit seiner Alltags- und Antihelden.

Europäische Komplizenschaft

Auch wenn unser bester Verbündeter am Bosporus mit deutschen Panzern und IS-Milizen Afrîn einnahm, bald auch Kobanê angreifen wird und mit Steyr-Scharfschützengewehren Zivilisten in Ostanatolien ermordet, seine Hochsicherheitsgefängnisse baut er ohne importiertes Material und Know-how, und sie wären bestimmt nicht ausbruchssicher, steckten sie nicht in einem viel verhängnisvolleren Cordon. Der aber ist unsichtbar. Denn seine transparenten Ziegel sind die durchaus transparente Duldung und Komplizenschaft der europä ischen Staaten, ihr Mörtel ist unser aller Ignoranz gegenüber dem Schicksal der demokratischen Opposition in der Türkei.

Am 12. Dezember wird der Prozess gegen Selahattin Demirtaş fortgesetzt werden. Die Vertreter der Anklage forderten ein Strafausmaß von 142 Jahren. Als die Menge bei einer von Erdogans Hetzreden gegen ihn vergangenen Juni nach der Todesstrafe geiferte, murmelte jener ins Mikrofon, dass er dieses Ansinnen unterstützen würde. Man kann Morgengrauen als Fortsetzung eines humanitären Kampfes mit literarischen Mitteln deuten. Doch hat es als Kunst über diese Intention hinweg Bestand. Zu selbstgewiss wird heutzutage die abgedroschene Frage verneint, ob Literatur die Gesellschaft verändern könne. Von der Literatur lässt die türkische Regierung im Gegensatz zum Mediensektor – noch – die Finger, was sich zu einem Teil auch mit Karl Kraus’ spöttischem Diktum er klären lässt, dass die Kritik, die der Zensor versteht, zu Recht verboten wird.

Kein Wunder, dass Demirtaş in der Tradition großer Vorbilder diesen schwer zu regulierenden Strom nutzt. Möge der Welt Selahattin Demirtaş noch die 142 Jahre, die ihn Erdogan einsperren lassen will, und mehr erhalten bleiben, und mögen seine Geschichten das von uns verhätschelte Böse überleben als Zeugnis der Menschenliebe, als Zeugnis einer noch immer nicht gleichgeschalteten türkischen Vielfalt der Stimmen und nicht zuletzt als Zeugnis eines beachtlichen Erzähltalents. (Richard Schuberth, 17.11.2018)