Ein Western voller Todgeweihter: Saul Rubinek, Tyne Daly und Chelcie Ross (v. li.) in "The Ballad of Buster Scruggs".

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Die Schreibtische der Regiebrüder Joel und Ethan Coen muss man sich als Schatztruhen vorstellen. Gut gefüllte Schubladen voller Entwürfe, Mappen mit Geschichten, die noch nicht verfilmt wurden. Sechs davon, die über einen Zeitraum von 25 Jahren entstanden sind, haben die Amerikaner nun zu ihrer ersten Arbeit für Netflix zusammengefügt.

Eine TV-Serie ist The Ballad of Buster Scruggs wohlgemerkt jedoch nicht, vielmehr ein eigenständiger Film. Im Herbst wurde er beim Filmfestival Venedig im Wettbewerb gezeigt und mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Erzählt werden sechs abgeschlossene, thematisch nicht verbundene Geschichten, welche gemeinsam dennoch eine kleine Anthologie über die kurze Lebenserwartung im Wilden Western bilden.

Im Tonfall sind sie sehr verschieden. Doch wer will, kann die zwischen skurrilen, makabren und melodramatischen Elementen changierenden Geschichten als Zeugnis der stilistischen Farbpalette der Coen-Brüder sehen. Auch ihre Liebe zu "Americana", zu Folk und populärkulturellen Mythen, die schon in Filmen O Brother, Where Art Thou oder Inside Llewyn Davis zum Ausdruck kam, spiegelt sich in diesem Retro-Album wider.

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Album mit Retro-Charme

Schon der Rahmen beschwört Vintagekultur herauf: Wie in einem B-Movie-Western blättert sich zu Beginn ein Buch auf und bleibt auf einer Seite mit handgezeichneter Illustration stehen. Und schon reitet Buster Scruggs (Tim Blake Nelson), die Klampfe zupfend, durch die Prärie und singt durstig von Cool Water.

Mit dem Revolverhelden Scruggs, dessen legendärer Ruf nur noch von seinem Ego übertroffen wird, setzen die Coens einen parodistischen Auftakt im Stile eines Western-Musicals – so, als wollten sie den Zuschauer zunächst mit humoristischem Blendwerk einfangen, um ihn anschließend in tiefere Gewässer zu führen. Meal Ticket, an dritter Stelle des Films, ist bereits ein erster Höhepunkt des Films. Er behandelt die prekäre Kunst der Schaustellerei – ein wiederkehrendes Motiv der Brüder, das sie hier um eine besonders maliziöse Variante erweitern.

Pechschwarze Präzisionsarbeit

Liam Neeson spielt einen Theaterimpresario, der mit seinem einzigen Darsteller (Harry Melling) von einem Ort zum nächsten zieht. Sein Programm vereint "Freakshow" und Vortragskunst, denn der Schauspieler, ein Torso ohne Gliedmaßen, ist gänzlich auf die Nuancen seiner Stimme angewiesen, wenn er Percy Bysshe Shelley oder Shakespeare vorträgt. Meal Ticket ist eine pechschwarze Präzisionsarbeit der Coens, die lakonisch vom Wettbewerb im Unterhaltungsgewerbe erzählt.

Hörtipp: Zuletzt ging es im Serienreif-Podcast um die letzte Staffel von "House of Cards".

The Ballad of Buster Scruggs gibt sich keinen Illusionen hin. Die Besetzung wechselte zu Pionierzeiten auf allen Etagen rasch. Die Gewalt lauert nicht nur an den typischen Westernkreuzungen, sondern gemäß dem Coen’schen Faible fürs Absurde an eher unübersichtlichen Stellen. Tom Waits freut sich als rauschebärtiger Goldsucher mehr darüber, dass er noch einmal mit dem Leben davonkommt, als darüber, dass sein gründliches Schürfen endlich Früchte trägt. Es sind mithin kleine Moritaten, die hier gereicht werden. Die Existenz ist immer in Gefahr. Die Gefahr lässt das Leben momenthaft schimmern. Der Schimmer hält nie lange an.

Hoffnung und Verzweiflung liegen nahe

Beinahe episch wird dieses Prinzip in The Gal Who Got Rattled ausgetragen. Die Erzählung um die junge Alice (Zoe Kazan), die sich einem Siedler-Trek anschließt und beinahe eine glückliche Zukunft mit einem anständigen Mann findet, hätte das Zeug zum Langfilm, würden sich nicht auch da die Ereignisse ungünstig verketten.

In dieser Geschichte ist der Tod noch tragisch, weil Hoffnung und Verzweiflung so nah beieinander liegen. Im abschließenden Teil, The Mortal Remains, der als Konversationsstück im Inneren einer Kutsche ausgetragen wird, formen die Coens dann eine Allegorie über die Menschen und die Vergeblichkeit all ihrer Anstrengungen. Die archetypischen Figuren – u. a. eine gottesfürchtige ältere Lady, ein liberaler Franzose und ein knorriger Trapper – tragen einen Disput über ihre konträren Weltanschauungen aus. Was sie eint, ist ihr fehlendes Bewusstsein für die eigene Endlichkeit. (Dominik Kamalzadeh, 16.11.2018)