Raphaël Glucksmann: Inklusion statt Ausgrenzung als Rezept.

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Der Moment ist günstig: Frankreichs Linke liegt brach, Präsident Emmanuel Macron hat die Hoffnungen vieler Sozialisten enttäuscht, und der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon hat sich mit aggressivem Verhalten disqualifiziert. So erklärt sich wohl auch der Volksauflauf am Donnerstagabend im Pariser Vorort Montreuil. Hunderte strömen in das Kulturzentrum La Marbrerie, um der ersten Versammlung von "Place publique" (öffentlicher Raum) beizuwohnen. Viele erhalten keinen Einlass mehr, und noch mehr verfolgten den Anlass live in den sozialen Medien – mit ein Zeichen, wie groß die Erwartungshaltung war und ist.

Sie gilt vor allem einer Person: Raphaël Glucksmann, dem 39-jährigen Gründer von Place publique. Der Sohn des 2015 verstorbenen Philosophen André Glucksmann lässt indes seinen Mitstreitern den Vortritt – sei es, um die Spannung im Saal zu erhöhen, sei es, um sich in "partizipativer Demokratie" zu üben. Junge Aktivistinnen und Aktivisten berichten zuerst von ihren Initiativen für Textilarbeiterinnen, nachhaltige Fischerei oder eine Migrantenschule.

Der linke Ökonom Thomas Porcher geißelt die Steuerfreiheit von US-Konzernen wie Starbucks, der Anwalt Jérôme Karsenti die Korruption; und die Ökologin Claire Nouvian erklärt, warum die Macron-Regierung der Nuklear- und der Jägerlobby verpflichtet sei – was beim Rücktritt von Umweltminister Nicolas Hulot augenfällig geworden sei.

"Das Haus aufbauen"

Das ist die Vorlage für Glucksmann, der nach stundenlangem Warten wie ein Star empfangen wird, auch wenn er freimütig sein Lampenfieber eingesteht. "Wir werden das Haus wieder aufbauen!", verspricht er, an die französischen Linken gewandt, "dazu heißen wir alle Vereinigungen und Parteien willkommen."

Der Neustart sei unerlässlich, meint er, da die europäischen Gesellschaften "auf der Kippe" stünden – klimatisch, politisch und sozial. Place publique stütze sich deshalb auf die vier Grundpfeiler Europa, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Ökologie und tritt für Migranten ein: "Wir dürfen nie daran denken, was sich wahltaktisch auszahlt", meint der frühere Berater des georgischen Expräsidenten Michail Saakaschwili. Er erklärt, warum in Umfragen zwei Drittel gegen die Migranten eingestellt seien: "Natürlich, weil keine politische Partei dafür eintritt!"

Glucksmann, der behauptet, er sei auf Macrons Betreiben als Chefredakteur des "Nouveau Magazine Littéraire" gefeuert worden, nennt seine Neugründung eine "Bürgerbewegung"; parteipolitische Aussagen vermeidet er bewusst.

Nachzulesen sind sie in seinem neuen Buch "Les enfants du vide" (Die Kinder der Leere), das soeben an die Buchhandlungen ausgeliefert worden ist. Die zentrale Aussage lautet: "Von Ökologie zu sprechen, ohne von Europa zu sprechen, und umgekehrt, das ist heute unmöglich."

Damit grenzt sich Glucksmann von seinen beiden politischen Hauptgegnern ab, wie er in einer Fußnote selber schreibt: "Emmanuel Macron ist ein beherzter Europäer, aber er kümmert sich nicht genug um Ökologie, um in ihr den Zweck und Antrieb des europäischen Projektes zu sehen. Jean-Luc Mélenchon ist wiederum für den Umweltschutz, aber er verachtet zu sehr die europäische Idee, um in ihr die Voraussetzung für eine wirksame Klimapolitik zu sehen."

Wie konkret Glucksmanns politisches Engagement ist, beweist an diesem Gründungsabend auch die Präsenz zahlreicher Linkspolitiker – von den Grünen bis zu den Kommunisten. Abwesend sind nur die "Mélenchonisten" und die trotzkistischen "Antikapitalisten". Sie nennen Glucksmann tags darauf einen "kleinen Links-Bonaparte" und meinen, "Place publique" sei "bezeichnend für das aktuelle Klima, das persönliche Initiativen fördert".

Die Pariser Medien anerkennen, dass Glucksmanns erstes politisches "Meeting" gelungen sei. Über seine Zukunftschancen schweigen sie sich allerdings vorsichtig aus. Glucksmanns Mitgründerin Claire Nouvian zeigt sich allerdings überzeugt, dass die neue Formation in Frankreich "mehrheitsfähig" sei. Zumindest dürfte sie in der Lage sein, den vielen Überläufern zu Macron oder Benoît Hamon ein neuartiges Auffangbecken jenseits der alten Parteistrukturen zu bieten. (Stefan Brändle, 16.11.2018)