Monica Culen: Wir müssen Kinder noch Kinder sein lassen.

Foto: https://www.istockphoto.com/at/portfolio/Imgorthand

Der Weltkindertag wird bei uns in der Regel mit leidenden Kindern in Entwicklungsländern und Kriegsregionen assoziiert, mit mangelnder Schulbildung, Missbrauch, Hunger und Gewalt. Ja, das Elend ist groß, und wir dürfen den Blick nicht abwenden von diesen Dramen und humanitären Skandalen! Unsere Aufmerksamkeit und Hilfe ist dringend notwendig. Aber vergessen wir gleichzeitig nicht auf jenes stille Unrecht, das hier und heute rund um uns, meist unbewusst und unverstanden, die wohlstandsverwahrlosten, vereinsamten Kinder erleiden, die in einer modernen Welt aufwachsen müssen, die vielfach nicht mehr kindgerecht ist.

In welcher Freiheit bin ich doch noch aufgewachsen! Im Sommer am Land haben wir Bandenkriege mit den Dorfkindern mitten auf der Straße ausgefochten, dem Nachbarbauern durfte ich am Feld bei der Heuernte und im Stall beim Melken helfen und jederzeit in der Scheune ins Heu springen. Heute sind die Dorfkinder in den Häusern beim Videospielen oder vor den Fernsehern, auf die Straße können sie nicht, weil das auch im hintersten Krähwinkel zu gefährlich geworden ist. Die Traktoren, die das damals zehnjährige Mädchen am Feld ein paar Meter "firifahrn" konnte, sind viermal so groß geworden und Hightech-Maschinen mit vierzig Bedienungselementen. Die herrliche Langeweile, die uns unbeaufsichtigt so erfinderisch in Wald und Wiese und am Bach gemacht hat, ist schon längst verpönt.

Immer höheres Tempo

Unsere Kinder der modernen westlichen Welt haben zumeist durchgeplante Tagesabläufe. Neben Eltern, die stets unter Druck stehen, die dank Smartphone und Tablet ständig im Kontakt mit der Welt sind, müssen auch die Kinder den Anforderungen eines gesellschaftlichen Systems "Besser, höher, weiter" entsprechen. Unsere Kinder sind in Schulen, die noch mehr fordern und den Druck noch mehr erhöhen und auf das individuelle Kind mit seinen persönlichen Stärken und seinem Tempo keine Rücksicht mehr nehmen können. In heftigem Konkurrenzkampf werden die Kinder von einer pädagogisch wertvollen Aktivität zur nächsten gehetzt, die Zeit wird minutiös genutzt, das Tempo ist hoch. Die Kinder müssen funktionieren.

Recht auf Ruhe, Freizeit, Spiel

Die UN-Kinderrechtskonvention fordert in Artikel 31 Absatz 1 das Recht der Kinder auf Ruhe und Freizeit sowie Spiel und altersgemäße Freizeitbeschäftigung. Haben wir vergessen, dass die Kinder im Spiel mit anderen Kindern das Leben üben und ihre sozialen Kompetenzen erringen? Im Computerspiel kämpfen sie zweidimensional gegen maschinengesteuerte Monster, aber sie lernen nicht, am Spielplatz zu raufen, zu gewinnen, zu verlieren, zu helfen, Konflikte zu lösen oder zu verzeihen. Doch sie müssen üben, sich zu ärgern, sich zu kränken, sich zu überwinden und Freundschaften zu pflegen. Im freien Spiel, ohne Anleitung und Bevormundung, entwickeln sie ihre Kreativität, ihre Fantasie, ihre Fähigkeiten.

Wir müssen Kinder noch Kinder sein lassen. Wir müssen ihnen Freiräume schaffen. In der global digitalisierten Welt, in die sie hineinwachsen, wird es nicht nur das Wissen sein, das sie überlebensfähig macht. Elektronische Gehirne akkumulieren das Wissen der Welt. Die nächsten Generationen werden Soft Skills brauchen, wenn sie diese Maschinen beherrschen wollen. Kreativität, humanitäre Werte, Solidarität, Kunst, Musik, Intuition. Unsere Kinder müssen Fähigkeiten entwickeln, die die künstlichen Intelligenzen nicht beherrschen. Und diese Fähigkeiten entwickeln sie erst einmal im Spiel. Also, lasst unsere Kinder spielen! (Monica Culen, 20.11.2018)