Viele verborgene Gletscher wurden bisher übersehen.

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Innsbruck/Wien – Im vergangenen Jahrhundert ist der Meeresspiegel global um bis zu 20 Zentimeter angestiegen. Die Ursachen für drei Viertel dieses Anstiegs sind rekonstruierbar: Durch die steigenden globalen Temperaturen kommt es zu einer Ausdehnung des sich erwärmenden Wassers sowie zu einer tatsächlichen Erhöhung der Wassermenge durch das Abschmelzen der Gletscher und Eisschilde.

Zudem wird von Landwirtschaft und Industrie immer mehr Grundwasser entnommen. Dieses war lange Zeit im Inneren der Kontinente gebunden – landet nun aber zum Großteil im Ozean, nachdem es nach der Entnahme seinen "Dienst" getan hat.

Das unerklärliche letzte Viertel

Für das restliche Viertel des Anstiegs – also rund fünf Zentimeter – hatten die Wissenschafter bisher aber keine Erklärung. Die glauben Ben Marzeion vom Institut für Geographie der Universität Bremen und David Parkes von der Universität Innsbruck nun in etwas gefunden zu haben, das Marzeion als "Dunkle Materie der Glaziologie" bezeichnet. Hinter dem Ausdruck verbirgt sich aber kein grundsätzlich neuer Faktor, er bezieht sich auf kleine Gletscher, die abgeschmolzen sind, ohne dass man von ihrer Existenz etwas geahnt hätte.

"Es gibt starke Hinweise darauf, dass die globalen Gletscherinventare unvollständig sind", sagt Marzeion und nennt konkret das von Innsbrucker Forschern mitinitiierte "Randolph Gletscher Inventar", das Daten zu so gut wie allen Gletschern auf der Erde in computerlesbarer Form enthält und eine wichtige Grundlage für die Forschung ist. Mehr als 200.000 Gletscher sind darin registriert – aber vermutlich nicht genug.

Unsichtbare Gletscher

Das Problem sei, dass es sehr schwierig ist, in Fernerkundungsdaten kleine Gletscher zu finden und als solche zu identifizieren. Marzeion: "Es gibt starke statistische Hinweise darauf, dass diese Gletscher existieren, man weiß aber nicht, wo sie sind." So gebe es etwa kleinere Gletscher, die völlig von Schnee oder von Geröll und Schutt bedeckt sind und bei denen man daher keine Eisflächen sieht.

Auch Gletscher in schattigen Nischen seien nur schwer wahrnehmbar – vor allem, wenn sie von größeren benachbarten Eismassen überstrahlt werden. Zudem verweist der Experte auf etliche Gletscher, die bereits im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwunden seien und daher nicht in den Inventaren aufscheinen.

Parkes, der in der Arbeitsgruppe Klimageographie in Innsbruck und Bremen promoviert hat und nun an der Katholischen Universität Leuven in Belgien arbeitet, hat eine statistische Methode entwickelt, um die vergangene Entwicklung dieser unbekannten Gletscher abzuschätzen. Damit kann er die bisher rätselhaften fünf Zentimeter Meeresanstieg vollständig erklären.

Faktor in Zukunft nicht mehr relevant

"Das ist deswegen überraschend, weil diese unbekannten Gletscher heutzutage so klein sind, dass sie insgesamt in der Zukunft nicht mehr als 0,2 bis 0,3 Zentimeter zum Meeresspiegelanstieg beitragen werden", sagte Parkes. Das ist aktuell unbedeutend gegenüber den Beiträgen bekannter Gletscher, die – sollten sie vollständig abschmelzen – den Meeresspiegel um 40 bis 50 Zentimeter ansteigen ließen. In den vergangenen 100 Jahren dürften aber die kleinen Gletscher, die man heutzutage kaum noch findet, sehr wichtig für den Anstieg des Meeresspiegels gewesen sein. (APA, red, 21. 11. 2018)