Regisseur Wolfgang Fischer: "Wir wollten keine Spezialeffekte. Wir wollten uns in diese Welt begeben, um sie begreifen zu können."

Foto: Filmladen

Die Handlung von Styx, Wolfgang Fischers vielfach prämiertem Film (zuletzt Deutscher Menschenrechts-Filmpreis), ist denkbar karg. Eine Frau, von Beruf Notärztin (Susanne Wolff), betreut in der ersten Szene einen Mann nach einem Autounfall; in der nächsten ist sie schon dabei, mit ihrem Segelschiff zur Atlantikinsel Ascension Island aufzubrechen. Als sie auf hoher See auf ein Schiff mit Flüchtenden trifft, das zu sinken droht, wird aus dem Ausbruch aus der eigenen Welt ein Belastungstest. Fischers Film ist ein elementares Drama, das auf die Frage nach dem richtigen Handeln nicht mit einer eilfertigen moralischen Antwort reagiert, sondern mit Anschauungsmaterial. Wir trafen Regisseur und Hauptdarstellerin während der Viennale.

Eine Frau, das Meer – und plötzlich sind da noch andere: Susanne Wolff als Seglerin in einem moralischen Dilemma in "Styx".
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STANDARD: Sie haben vor neun Jahren mit dem Entwurf für den Film begonnen, da war von der Krise im Mittelmeer noch kaum die Rede. Wie haben Sie diese wachsende Dramatisierung erlebt?

Fischer: Es war erschreckend. Vor neun Jahren gab es noch keinen Arabischen Frühling, keinen IS – und dann ist die Situation immer extremer geworden. Geschehen ist wenig. Alles hat sich zugespitzt. Jetzt dürfen keine NGO-Schiffe mehr Rettungseinsätze fahren. Ich habe das Gefühl, als hätte ich vor zwei Wochen eine Dokumentation gedreht.

Wolff: Ich dachte, dass man sich sehr beeilen muss, diesen Film herauszubringen, weil er womöglich nicht mehr aktuell ist. Jetzt ist er aber immer aktueller geworden.

STANDARD:: Betrachten Sie den Film auch als Auseinandersetzung mit der Blase, in der wir selber leben? Stellt er die Frage nach der Grenze unseres liberalen Denkens?

Fischer: Es ging von Anfang an nicht darum, einen Film über die Migrationskrise zu machen. Die Grundidee war, einen Film über uns zu machen. Es geht um unsere Geschichte und darum, wie wir uns verhalten, wenn wir in eine solche Situation kommen. Natürlich kann ich behaupten, ich würde sofort helfen und die Menschen retten. Kann ich aber in Wahrheit nicht, weil ich die Situation gar nicht kenne. Ich habe auch ein Gespräch mit einem Segler geführt, der in einer ähnlichen Situation war, sich aber dazu entschieden hat, seine Positionslampen zu löschen und wegzufahren. Diese Entscheidung kann ich nachvollziehen.

STANDARD:: Hat er es bereut?

Fischer: Natürlich, diese Entscheidung verfolgt ihn. Es ist eigentlich eine alltägliche Situation, ähnlich wie wenn wir auf der Autobahn fahren und ein Unfall passiert. Eine solche Entscheidung wollte ich problematisieren. Dadurch, dass der Film auf dem Meer spielt und mit Flüchtenden zu tun hat, bekommt das Drama natürlich diese Aufladung. Ich wollte von der kleinen Beobachtung aus etwas Großes erzählen, nicht umgekehrt. Um den Zuschauer in dieser Perspektive zu zwingen. Ohne Schuldzuweisungen. Es ging mir um einen Shortcut zur Emotion, nicht zur Reflexion.

STANDARD: Wie geht man da als Schauspielerin an die Figur heran? Sie wird stark durch den Beruf der Notärztin definiert.

Wolff: Die Herausforderung bestand darin, jemanden zu spielen, der gleich in zwei Bereichen, als Ärztin und Seglerin, Profi ist. Diese Professionalität verstellt den Weg zur Improvisation oder zur Interpretation; man tut nichts, was man als außergewöhnliche Verhaltensweise dieses Menschen empfinden könnte. Stattdessen zeige ich jemanden, der sehr stringent dem Erlernten folgt.

Fischer: Das Tolle an dieser Figur ist, dass sie uns zwei Schritte voraus ist. Sie kann Einsamkeit ertragen, sie kann sich in eine archaische Welt begeben und sie beherrschen. Ich könnte das nicht, ich wäre viel früher hysterisch. Wenn diese Frau hingegen ihre Façon verliert, dann wird es gefährlich. Das galt es wie ein Gummiband zu inszenieren, das sich immer weiter dehnt.

Trailer zu "Styx".
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STANDARD: Frau Wolff, wie haben Sie diese Kontrolle gehalten?

Wolff: Absolut reduziert zu spielen war das Wichtigste. Vieles ist mir aber erst klargeworden, als ich den Film sah. Das lag daran, dass beim Dreh im wahrsten Sinne des Wortes der Abstand nicht möglich war. Es so unfassbar eng. Ich musste Wolfgang folgen. Das war oft schwierig, weil ich als Figur früher, intuitiv, Ungeduld oder Ungehaltenheit gezeigt hätte. Ich wollte ausbrechen, eine Reaktion zeigen, doch Wolfgang war da äußerst streng. Er sagte: "Nein, ruhig bleiben, ruhig bleiben ..." Natürlich habe ich etwas gebraucht, was unter der Segelunterwäsche ist, etwas, von dem ich sagen konnte, das ist die Identität der Figur.

STANDARD: Umgekehrt stelle ich mir vor, dass ein Dreh auf dem offenen Meer automatisch viele Unwägbarkeiten bringt.

Fischer: Wir waren 42 Tage auf einem Elf-Meter-Boot, mit maximal zehn Leuten. Da gibt es keine Rückzugsorte, auch keine Intimität. Es ging darum, das Unmögliche möglich zu machen. Alle meine Regiekollegen haben mir abgeraten, auf dem Meer zu drehen. Es macht, was es will. Du musst permanent auf Wetterwechsel reagieren. Es war schwierig, da ein System zu finden – das ist auch der Unterschied zu J. C. Chandors All Is Lost, der im Studio entstand. Wir wollten keine Spezialeffekte. Wir wollten uns in diese Welt begeben, um sie zu begreifen.

STANDARD: Es gab also gleichsam einen dokumentarischen Zug?

Fischer: Ja, die meisten Figuren, etwa die Soldaten der Küstenwache, spielen sich selbst. Gerade angesichts der Thematik sollte der Film hyperrealistisch sein. Wenn Susanne auf dem Boot ein Vorsegel setzt, dann muss man sich vorstellen: Wo ist das Team? Das hängt dann teilweise über der Reling. Oder ist unter Deck. Viele wurden seekrank. Zugleich durfte man den emotionalen Bogen der Hauptfigur nicht stören. Es gibt nur eine Figur, und die trägt den ganzen Film.

Wolff: Gut, dass du mir das alles jetzt erst sagst.

STANDARD: Mit dem afrikanischen Buben Kingsley kommt freilich noch jemand an Bord, der dann durchaus eigensinnig agiert.

Fischer: Ja, denn er ist ein mündiger Mensch. Er ist kein armer kleiner Junge aus Afrika, der dankbar und devot ist. Er ist gerettet worden. Aber jetzt will auch er etwas. (Dominik Kamalzadeh, 22.11.2018)