Wien – Das runde Republikjubiläum hat Österreich in den vergangenen Wochen nicht nur ein Haus der Geschichte beschert, sondern auch etliche Festveranstaltungen, um der wechselvollen Geschichte seit 1918 zu gedenken. Auch die Sozialwissenschaften feierten mit, obwohl sie – im Gegensatz zur Republik oder zum Frauenwahlrecht – nicht wirklich auf ein Gründungsdatum vor 100 Jahren verweisen können.

Frühe Spuren der Sozialwissenschaft fanden sich in Österreich bereits im 19. Jahrhundert, und eine der ersten Institutionalisierungen – die Gründung der Soziologischen Gesellschaft in Wien – erfolgte bereits 1907 auf Initiative des Privatgelehrten Rudolf Goldscheid. 1918 war immerhin einer der berühmtesten Soziologen für ein Jahr Professor an der Universität Wien: Max Weber.

"Labor der Moderne"

Tatsächlich war Wien rund um den Ersten Weltkrieg nicht nur "Versuchsstation des Weltuntergangs" (Karl Kraus), sondern auch ein "Labor der Moderne", woran die Soziologin, Wissenschaftsforscherin und ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats (ERC) Helga Nowotny bei ihrem Festvortrag am ersten Tag des Symposiums "Hundert Jahre Sozialwissenschaften als Gesellschaftsgestaltung" erinnerte.

Eröffnet hatte die Tagung übrigens ein habilitierter Politikwissenschafter: Altbundespräsident Heinz Fischer. Die Soziologin Michèle Lamont (Harvard) hielt den zweiten Hauptvortrag.

Tour d’Horizon über 100 Jahre

Nowotnys Tour d'Horizon, die am zweiten Tag in Einzelvorrägen vertieft wurde, begann mit einer Ausdeutung von drei sozialwissenschaftlichen Schlüsselbegriffen: Diagnose, Reflexion und Antizipation. Danach ging es zurück in jene Zeit, in der Wien die Welt noch mit Ideen versorgte, wie die britische Zeitschrift "Economist" Ende 2016 mit Verweis auf Sigmund Freud, die Österreichische Schule der Nationalökonomie, aber auch auf pionierhafte sozialpsychologische Studien wie "Die Arbeitslosen von Marienthal" schrieb.

Innovative Sozialwissenschaft, so Nowotny, wurde vor 1938 vor allem außeruniversitär betrieben, die damaligen Protagonisten waren einerseits von einem großen "Willen zum Wissen" getrieben und waren dabei sowohl methodisch wie auch theoretisch höchst kreativ. Bereits 1934 wurden etliche von ihnen vertrieben – wie etwa Otto Neurath, der Erfinder der Bildstatistik, 1938 folgten viele andere ins Exil, aus dem nach 1945 nur die wenigsten zurückkehrten.

Geschichte nach 1945

Der Wiederimport der modernen Sozialforschung durch das Institut für Höhere Studien ab 1963 klappte dann nicht ganz reibungslos. Und so kam es, dass die universitär betriebenen Sozialwissenschaften in vielen Bereichen noch länger brauchten, um internationalen Anschluss zu finden. Das zeige sich, so die ehemalige ERC-Präsidentin, bis heute an einer relativ geringen Zahl an heimischen ERC-Grants aus den Sozialwissenschaften.

Am Ende hatte Nowotny auch noch ein knappes Rezept für die Zukunft: eine gute Balance von gesellschaftlicher Relevanz und wissenschaftlicher Exzellenz – möglichst in Kombination mit Big Data. (tasch, 23.11.2018)