Mit zwei großen Zielsetzungen schreitet die türkis-blaue Regierung zum Umbau des Sozialsystems. Erstens und am wichtigsten: Ausländer, besonders wenn sie nicht lange im Land sind, sollen nach Möglichkeit künftig weniger bekommen. Das soll anerkannte Flüchtlinge genauso treffen wie Arbeitsmigranten.

Zweitens soll es mehr Anreiz und damit mehr Druck geben, damit sich Arbeitslose einen Job suchen. "Wir wollen die Leute aus der sozialen Hängematte holen", formuliert es ÖVP-Klubchef August Wöginger. Wenn künftig einem nicht alleinerziehenden Mindestsicherungsbezieher ab dem dritten Kind nur noch rund 45 Euro zustehen anstatt der derzeit 233 Euro pro Kind in Wien, dann treffen in den Augen der Koalitionäre beide Argumentationslinien zusammen.

Gegen diese Logik lässt sich einiges einwenden. So gibt es nicht nur türkische, sondern auch österreichische Vielkinderfamilien, die von der Kürzung betroffen sein werden. Gewichtiger ist, dass unter Experten überhaupt umstritten ist, wie viel mehr Menschen sich um Arbeit bemühen würden, wenn sie weniger Sozialhilfe bekämen. Empirisch lässt sich das nicht vorhersagen. Was es gibt, sind Zahlen dazu, wer Notstandshilfe und Mindestsicherung bezieht. Diese zeigen, dass ein großer Teil der Gruppe schlechte Karten am Arbeitsmarkt hat: Viele Betroffene sind alt oder krank. Bei ihnen fehlt also nicht der Wille.

Und doch stimmt es, dass zum Beispiel in Wien Mindestsicherungsbezieher mit vielen Kindern am Arbeitsmarkt kaum mehr verdienen würden, als sie via Sozialhilfe bekommen. Allerdings gäbe es eine Möglichkeit, dieses Problem sozialpolitisch verträglicher zu entschärfen, als Zahlungen ab dem dritten Kind runterzukürzen. Wem es wirklich darum geht, Arbeit reizvoller zu machen, der darf nicht nur über Sozialleistungen reden, sondern muss auch über Arbeitseinkommen sprechen.

Österreich ist ein Land mit einer im internationalen Vergleich hohen Belastung des Faktors Arbeit. Die Lohnsteuer spielt für Geringverdiener kaum eine Rolle. Dafür schlagen Sozialversicherungsabgaben voll durch: Ab einem Einkommen von 438 Euro im Monat fallen sie in nahezu voller Höhe an. Im Schnitt muss jemand, der zwei Drittel des durchschnittlichen Bruttolohns verdient, davon 43 Prozent an den Staat abgeben. Diese Belastung ist es, die dafür sorgt, dass die Differenz zwischen Sozialleistung und Arbeitslohn oft überschaubar bleibt.

Die richtige Antwort wäre also eine Senkung der Lohnabgaben für Geringverdiener. Damit wäre es nicht nur finanziell attraktiver zu arbeiten. Nebenbei bliebe Menschen, die sich abstrampeln und trotzdem schlecht verdienen, mehr übrig. Etwa jeder Siebente arbeitet im Niedriglohnsektor.

Die ökonomische Vernunft legt also nahe, über Nettoeinkommen und Sozialleistungen zu sprechen. Warum redet die Koalition nur über Letzteres? Eine Vermutung wäre, dass sie Folgedebatten ausweichen will. Wer Arbeit entlasten will, muss das gegenfinanzieren. So könnte man Ökosteuern anheben. In kaum einem Industrieland sind vermögensbezogene Abgaben so niedrig wie in Österreich. Auch hier, konkret bei der Erbschaftssteuer, besteht Spielraum. Ins türkis-blaue Konzept passt beides nicht. Bei der ÖVP ist das logisch, weil sie nicht Politik für Geringverdiener machen will. Die FPÖ aber hofft, dass ihre Abkehr "vom kleinen Mann" nicht auffällt, wenn sie das Ausländerthema laut genug trommelt. (András Szigetvari, 25.11.2018)