Der Germanist Rudolf Muhr sucht jährlich Unwörter.

Foto: der Plankenauer/Mag. Horst Plank

Einmal im Jahr ruft der Sprachwissenschafter Rudolf Muhr im Netz dazu auf, innezuhalten und nachzudenken, welche Worte, welche Unwörter oder welche Sprüche im öffentlichen Diskurs das Jahr über besonders prägend waren. Manches Vokabular sei besonders aufgeladen und deshalb "relevant für das politische Leben in einem Land", sagt Rudolf Muhr.

Auch in Deutschland oder der Schweiz werden jährlich das Wort, das Unwort, das Jugendwort, der Spruch und der Unspruch des Jahres gesucht. Die österreichische Präsentation findet am 6. Dezember statt. Sicher einer der heurigen Topanwärter auf den Unspruch des Jahres: "Ich habe die Balkanroute geschlossen."

Grafik: Fatih Aydogdu

STANDARD: Warum sind Sie eigentlich so negativ, Herr Muhr? Sie lassen Unwörter des Jahres suchen, warum nicht einmal das "schönste Wort", die "schönste Wortschöpfung" des Jahres?

Muhr: Ja stimmt, das könnten wir auch einmal machen. Das Problem ist nur, wir haben schon fünf Kategorien, aber ich werde es meinen Kollegen vorschlagen. Wir werden eben von negativem Vokabular überflutet, das meist in einem spezifischen, sozialen oder politischen Kontext steht und mit besonderen, politischen, sozialen oder sonstigen Bedeutungen aufgeladen ist. Deswegen ist es so relevant für das politische Leben in einem Land, und genau deshalb geht es beim Wort oder Unwort des Jahres. Es geht uns darum, gewisse Wörter einzufangen, die den Leuten am Herzen liegen. Unsere Jury besteht aus elf Vertretern aller Grazer Universitäten, die dann aus den im Internet bewerteten Wörtern auswählt.

STANDARD: Heuer registrieren Sie ein besonders hohes Interesse am Wort des Jahres. Was, vermuten Sie, sind die Gründe?

Muhr: Wir haben schon jetzt weit über 50.000 Einsendungen gesammelt, mehr als im Vorjahr. Vielleicht ist das auch eine Reaktion auf die neuen Regierungsverhältnisse. Tatsächlich bemerkt man in Österreich ein Aufleben der politischen Aktivität, und man merkt, dass die Leute sehr genau hinschauen. In Zeiten der großen Koalition zwischen SPÖ und ÖVP waren die großen gesellschaftlichen Kräfte aneinandergebunden, und damit waren politische Auseinandersetzungen zwischen den großen Lagern sehr gedämpft. Jetzt haben wir keine herkömmliche, sondern eine rechts stehende Bundesregierung, sodass links von der Mitte Platz bleibt. Damit ist das demokratische Spiel der Kräfte hergestellt, und es kommt zu einem regelmäßigen verbalen Schlagabtausch.

STANDARD: Die Wörter des Jahres haben wohl auch so etwas wie einen sprachlichen Hygienefaktor.

Muhr: Ja, wir gehen der Frage nach: Wie drücken wir uns aus. Das hat ja auch starke Implikationen für die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Zum Beispiel: In den letzten Jahren haben wir von der FPÖ jedes Jahr rassistische Sprüche gelistet. "Pummerin statt Muezzin" und dergleichen. Mittlerweile haben sie das abgestellt, auch weil Jahr für Jahr ihre Sprüche zu den Unsprüchen des Jahres geworden sind. Das hatte tatsächlich etwas mit einer sprachlichen Hygiene zu tun.

STANDARD: Sie suchen seit 1999 die Wörter des jeweiligen Jahres. Was hat sich in der öffentlichen Sprache seither verändert?

Muhr: Als Jörg Haider in die Politik kam, hat sich der gesellschaftliche Diskurs massiv verändert. Natürlich hat man auch früher unfreundliche Worte füreinander gefunden, aber es ist nie so weit gegangen, dass man dem anderen die Existenzberechtigung abspricht. Das zieht sich bis heute durch, und man merkt, dass die rechten Parteien – und da rechne ich mittlerweile auch jenen Teil der ÖVP dazu, der jetzt an der Macht ist – sprachlich genau das pflegen, was mit Haider prägnant begann. Nämlich dass bestimmte Gruppen herausgegriffen werden und zu Feindbildern gemacht werden. Die sprachliche Verrohung hat mit Haider begonnen und ist in diesen Kreisen zur Norm geworden. Stichwort: Fake-News. Wenn eine mächtige Person etwas lange genug wiederholt, da wird im Orwell'schen Sinn die Lüge zur Wahrheit und die Wahrheit zur Lüge. Wenn mächtige politische Akteure sprachlich aggressive Verhaltensweisen an den Tag legen und durch Wahlen bestätigt werden, dann wird aggressives Potenzial lebendig und virulent.

STANDARD: Die Macht der Worte, die bedrohliche Bilder erzeugt: Asyltourismus, Flüchtlingsinvasion: Wie kann man gegensteuern?

Muhr: Ich kann nur sagen, was wir tun können: Wir setzen diese Wörter, diese Aussagen auf die Liste der Unwörter. Mehr ist in unserem Rahmen nicht möglich. Ich bis Sprachwissenschafter und kein Politiker. Aber ich bin zum Beispiel dafür, dass offensives Lügen von Politikern bestraft wird – damit die Lügen nicht weiterverbreitet werden. Politische Akteure, die der Lüge überführt werden, sollen etwa verpflichtet werden, in Zeitungen halbseitige Inserate zu veröffentlichen, und sie müssten diese auch bezahlen. Es soll eine ordentliche Summe kosten, damit es auch wehtut. Und bei offensichtlichen Hassposting sollte ein Regulator das Recht bekommen, die Seiten kurzfristig abschalten zu können.

STANDARD: Was in der öffentlichen Sprache besonders auffällt, ist auch die Veränderung der Jugendsprache. "Bitch", "Hurensohn" oder "Spasti" gehören heute zum Alltagsvokabular auf den Schulhöfen. Bedenklich, oder soll man gelassen daran vorbeihören?

Muhr: Es ist nicht erfreulich, wobei ich den Verdacht habe, dass die Kinder und Jugendlichen, die das verwenden, oft nicht genau wissen, was das eigentlich heißt. Solche Wörter verschwinden wieder. Nach zwei, drei Jahren weiß keiner mehr davon.

STANDARD: Das heißt, bei der Jugendsprache durchaus Gelassenheit an den Tag legen?

Muhr: Absolut. (Walter Müller, 28.11.2018)