Masha Gessen erhält 2019 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

Tanya Sazansky

Masha Gessen, "Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor". € 26,80 / 639 Seiten. Suhrkamp-Verlag, 2018

Suhrkamp

"Russland wird nie mehr in die Vergangenheit zurückkehren. Es wird sich von jetzt an nur noch nach vorn bewegen", versicherte Boris Jelzin 1999 in seiner Rücktrittsrede. Warum das Gegenteil geschah, gibt seither Rätsel auf. Masha Gessen widmet dieser Frage eine düstere Erzählung über ein Land, das von seiner Vergangenheit gefangen gehalten wird. Sie holt weit aus, wiederholt Bekanntes aus dem sowjetischen Lebensalltag, beschreibt das Auftreten der ersten Risse, die Aufbruchsstimmung unter Michail Gorbatschow, die Auflösung der Sowjetunion unter Boris Jelzin und das Auftauchen Wladimir Putins, auf den alle gewartet zu haben schienen.

Als "umfangreichen faktografischen russischen Roman" begreift Gessen ihr Buch. Den historischen Ablauf schildert sie, gestützt auf Familiengeschichten, aus ständig wechselnder Perspektive, mal von unten, mal von oben, mal von außen, mal von innen, eine Darstellungsweise, die bereits Saul Friedländer für sein Werk über Das Dritte Reich und die Juden wählte. Tatsächlich schlägt Gessen gleich im Prolog eine Parallele zwischen dem sowjetischen Regime und dem nationalsozialistischen. Sie zitiert ihre Mutter, die 1981 die Emigration der Familie mit der Feststellung begründete, die UdSSR sei ein totalitärer Staat, und das sowjetische Regime mit dem nationalsozialistischen verglich. Auch greift Gessen auf Hannah Arendt zurück, die in ihrer Untersuchung Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft die Existenz beider Diktaturen zu erklären suchte.

Beginn des Freiheitsverlustes

Wie Russland die Freiheit gewann und verlor lautet Gessens Untertitel. Jene Phase des Freiheitsverlusts begann für sie, als Dmitri Medwedjew zum Präsidenten gewählt wurde, um nach nur einer Amtszeit 2012 wieder Putin das Präsidentenamt zu überlassen. Damals setzte es ein, dass missliebige Personen beseitigt und Schwule zum Sündenbock und "öffentlichen Feind Nr. 1" wurden: "Der Satan, Pädophilie, die amerikanische Aggression, der Tod der christlichen Zivilisation und natürlich die demografische Bedrohung – all das hing jetzt irgendwie mit den Schwulen zusammen."

Das war auch der Zeitpunkt, als Gessen für sich keine andere Wahl gesehen hat, als das Land zu verlassen. 1996 war sie aus der US-Emigration nach Russland zurückgekehrt. Die Homophobie-Gesetzgebung aber zwang sie, 2013 erneut das Land zu verlassen. Mit ihrer Frau und den beiden Kindern übersiedelte sie nach New York.

Erschütternd an Gessens Darstellung ist die düstere Ausweglosigkeit, in der sie Russland zeigt. "Erkenntnis, Trauer und Gerechtigkeit" habe der Kulturwissenschafter Alexander Etkind als Bedingungen der Heilung nach einer Katastrophe genannt. Unter Jelzin aber wurden die Geheimnisse der Sowjetunion auf Eis gelegt. Die von Gorbatschow erstmals geöffneten Geheimarchive, die über den Großen Terror unter Stalin Aufschluss geben sollten, wurden wieder geschlossen. Jelzin wollte "Eintracht und Versöhnung". Auf Wahrheit verzichtete er. Die quälende Frage nach dem Sinn der selbstzerstörerischen Tragödie blieb unbeantwortet. Das Gift der nicht aufgearbeiteten Geschichte wirkte fort. Bedenkt man, dass Historiker bereits in der Sowjetunion ein Fortwirken imperialer zaristischer Traditionen ausmachten, dann lastet auf dem heutigen Russland das unsägliche Erbe von gleich zwei Regimen.

Eine paranoide Weltsicht

Ausführlich lässt Gessen die Psychoanalytikerin Marina Arutjunjan zu Wort kommen. Diese berichtet, wie sich die meisten ihrer Klienten nach Stabilität sehnten, doch in Putins Russland bewusst ständiger Beunruhigung ausgesetzt würden. "Es war ein uralter Dreh", schreibt Gessen. "Wer die Leute in einem andauernden Zustand unterschwelliger Furcht hält, nimmt ihnen das Gefühl, dass sie noch irgendetwas beeinflussen können, und kann sie damit leichter unter Kontrolle halten."

In der Angst regrediere man und könne irgendwann nur noch schreien wie ein hilfloses Kind, das jemanden brauche, der für einen die Dinge in die Hand nehme. Und hilflos fühle sich das ganze Land. Gessen verweist auf furchteinflößenden TV-Sendungen, in denen alle ununterbrochen schrien. Trost biete die paranoide Weltsicht. Sie verlagere die Ursache der Angst nach außen. Alle, ganz besonders die USA, seien darauf aus, Russland zu schwächen und zu zerstören. Da schaffe es "große Erleichterung, zu jemand Stärkerem zu gehören und ihm die Autorität zu übertragen".

Gessen zitiert aus einer Rede Putins zum Thema Gesellschaften zwischen Krieg und Frieden, deren zentrale Botschaft sie so versteht, "dass Russland nur im Kriegszustand Frieden finden konnte". Sie vergleicht diese Aussage mit Hitlers nostalgischer Sehnsucht nach dem Ersten Weltkrieg, die Hannah Arendt hervorhebt. Schließlich kommt sie mit Arutjunjan auf Freuds Spätschrift Jenseits des Lustprinzips und seine These zum Todestrieb: "War diese Dynamik in Russland freigesetzt worden?" Bei der Sichtung der Symptome stellt sie fest: "Russland und die Russen starben seit einem Jahrhundert – in den Kriegen, im Gulag und vor allem durch die Geringschätzung menschlichen Lebens im Alltag." Und sie gelangt zu der verstörenden These: "Dieses Land wollte sich selbst töten." (Ruth Renée Reif, 12.12.2018)