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In der Wirtschaftswelt polarisiert Paul Romer. Am Anfang des heurigen Jahres musste er als Chefökonom der Weltbank zurücktreten, zehn Monate später erhielt er den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, kurz Wirtschaftsnobelpreis. Im Gespräch mit dem STANDARD erzählt er, dass ihn seine Putzfrau auf eine Idee brachte, wie man das weltweite Flüchtlingsproblem in den Griff bekommen könnte. Sogenannte Charter Citys wären für Romer eine Möglichkeit. Dass Korruption ein Hindernis für derartige Projekte darstelle, bezweifelt er. Wien und New York seien auch nicht frei von solchen Machenschaften.

STANDARD: Sie waren einer der Nominierten für den Nobelpreis. Am Tag der Verleihung läutet das Telefon, und Sie heben nicht ab. Warum?

Romer: Da passte einiges zusammen (lacht). Es war sechs Uhr in der Früh, ich war verschlafen und hielt die Anrufe für Spam. Die Landesvorwahlen von England und Schweden habe ich verwechselt, und außerdem glaubte ich, der Preis wird erst eine Woche später vergeben. Kurz darauf fiel mir dann jedoch auf, dass ich zu so nachtschlafender Stunde noch nie Spam-Anrufe bekommen hatte und rief deshalb zurück. Das hat sich ausgezahlt.

STANDARD: Sie erhielten den Nobelpreis unter anderem für Ihre Wachstumstheorien. Kürzlich forderten mehr als 200 Ökonomen von der EU, das Streben nach BIP-Wachstum aufzugeben. Es würde die natürlichen Ressourcen überfordern. Glauben Sie das auch?

Romer: Es würde keinen Unterschied machen, wenn ein Staat ein anderes Messinstrument als das BIP-Wachstum heranzieht. Wir brauchen keine Änderung im Statistiksystem, um die Umwelt zu schützen, sondern eine globale Koalition, die sich einigt, etwas zu unternehmen. Staaten könnten etwa eine Emissionssteuer einführen, die in der Zukunft steigt. Menschen brauchen Anreize, damit sie lieber heute als morgen mit Innovationen beginnen. Ökonomen müssen aber sehr vorsichtig sein, was sie sagen.

STANDARD: Inwiefern?

Romer: Ökonomen sollten Entscheidungsträger mit faktenbasierten Informationen versorgen. Nicht mehr und nicht weniger. Ich würde so einen Brief zu keinem Thema der Welt unterschreiben. Außerdem untergraben wir Ökonomen mit zu vielen Behauptungen unsere eigene Glaubwürdigkeit.

STANDARD: Stichwort Glaubwürdigkeit. US-Präsident Donald Trump gibt oft wenig auf wissenschaftliche Expertise. Was denken Sie über sein Verhalten?

Romer: Ich weiß, wen ich wähle und wen nicht. Aber als Ökonom fehlt es mir an wissenschaftlicher Expertise, um das Verhalten eines Politikers zu analysieren.

STANDARD: Der Handelsstreit fällt aber in Ihren Fachbereich. Wie gefährlich ist er?

Romer: Der Handelskrieg stellt ein Problem dar, aber ich fürchte, ohne mir hier Vermutungen entlocken zu lassen, er dient als Nebelgranate, um ein viel größeres Thema zu verschleiern. Möglicherweise auch mehrere. Eine viel weitreichendere Bedrohung sehe ich in der aktuellen Aushöhlung der Demokratie und ihrer Institutionen. Wenn wir ein derart hohes Gut wie die Demokratie verlieren, brauchen wir uns wegen Handelszöllen nur wenig Sorgen machen.

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Der schwedische König Carl Gustaf (re.) übergibt Romer den Preis in Stockholm. Romer hätte den Anruf aus Schweden beinahe verpasst.
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STANDARD: Was hat uns in diese Lage gebracht?

Romer: Die weltweite Angst vor Migrationsströmen trägt wohl einen gehörigen Teil dazu bei. Außerdem räumen politische Parteien auf der ganzen Welt Hass, Angst und diffamierender Rhetorik immer mehr Platz ein. Auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Menschen verlieren das Vertrauen in den Staat und in Expertenwissen. Ein Beispiel sind Impfgegner. In Italien werden Impfgegner sogar von der Regierung unterstützt. In einer Welt, in der jegliche Form von Expertise ihre Legitimität verliert, muss man als Ökonom doppelt aufpassen, was man sagt.

STANDARD: Zum Thema Flucht haben Sie einen konkreten Lösungsvorschlag.

Romer: Bevor wir über eine Lösung diskutieren, müssen wir das Problem verstehen. Hunderte Millionen Menschen wollen ihre Heimat verlassen. Das hat unterschiedliche Gründe: Gewalt, Krieg, politische Verfolgung oder mangelnde wirtschaftliche Möglichkeiten. Es ist nicht möglich, jeden in einem anderen Land unterzubringen. Die Einwohner würden auf die Barrikaden gehen. Deshalb sollten in armen Ländern sogenannte Charter-Citys errichtet werden.

STANDARD: Wie soll so eine Charter-City aussehen?

Romer: Das ist sozusagen eine Sonderverwaltungszone. Ein Entwicklungsland stellt Grund und Boden zur Verfügung, in dem die Regeln eines westlichen Staates gelten – vergleichbar mit Hongkong unter britischer Herrschaft. Der Industriestaat sorgt für die elementaren Voraussetzungen für ein geordnetes Zusammenleben: Sicherheit, politische Stabilität, ein intaktes Justizsystem sowie einen Polizeiapparat. Die Ressourcen sind die Menschen selbst. Lasst sie kommen, und sie werden die Stadt aufbauen. Migranten brauchen in Wahrheit nur einen Raum, in dem sie in einem organisierten Rahmen eine neue Existenz aufbauen können.

STANDARD: Das klingt nach modernem Kolonialismus.

Romer: Ist es aber nicht. Alles beruht auf Freiwilligkeit. Jeder kann kommen und gehen, wann er will. Migration konfrontiert uns mit enormem menschlichem Leid. Empathie und Verantwortungsgefühl sind Mitgründe, warum westliche Demokratien überhaupt etwas tun wollen. Dieses Thema darf nicht nur wirtschaftlich oder monetär betrachtet werden. Sonst könnten westliche Demokratien auch militärisch alle dazu zwingen, zu bleiben, wo sie sind. Von einer Charter-City würden alle profitieren.

STANDARD: Wie ließe sich so ein Projekt finanzieren?

Romer: Es braucht dafür keine Almosen, sondern ungenütztes Land, Stadtplanung für Straßen und öffentlichen Raum. Das kostet nicht viel. Am Anfang wäre es chaotisch, keine Frage. Der Aufbau von New York 1811 war auch ein großes Durcheinander, doch es hat funktioniert.

STANDARD: Wo könnten Sie sich so eine Sonderverwaltungszone vorstellen?

Romer: Zum Beispiel in Somalia. Der Süden des Landes wird von Al-Shabaab-Milizen kontrolliert, und die Regierung hat keine Kontrolle. Während der Somalia-Krise waren vier Millionen Menschen auf der Flucht, kein Nachbarland hätte sie aufnehmen können. Die Weltbank hätte Somalia die Schulden erlassen können und dafür lässt man einen anderen Staat eine Charter-City errichten. Somalia hätte keine Schulden mehr, die Flüchtlinge hätten einen Zufluchtsort, und die Nachbarländer wären entlastet.

STANDARD: Und wie bekäme man die Al-Shabaab-Milizen in den Griff?

Romer: Mit einer deutlich abgegrenzten Pufferzone, die von einer stabilen Polizei kontrolliert wird. Die USA haben in Afghanistan und dem Irak den taktischen Fehler gemacht, dass sie das ganze Land kontrollieren und schützen wollten. Dafür fehlten klarerweise die Ressourcen. Bei einer Stadt wäre das nicht so schwer. Und um das Schicksal der Milizen müssten wir uns wohl weniger Gedanken machen.

STANDARD: Wäre eine derartige Stadt nicht ein guter Nährboden für korrupte Machenschaften?

Romer: Glauben Sie, New York oder Wien sind frei von Korruption? Als New York aufgebaut wurde, war es extrem, dennoch hatten Millionen Menschen die Möglichkeit, zu kommen und zu arbeiten. Es hat auch in meinem gern zitierten Beispiel Hongkong funktioniert. Natürlich dauert es lange, ein System aufzubauen, aber von der Magna Carta zu unserem heutigen Rechtsverständnis war es auch ein mühevoller Weg. Auch für das rechtliche System bietet sich der Vergleich mit Hongkong an. Dort gab es keine demokratischen Wahlen, aber auch keine Diktatur. Vor dem Gesetz waren alle gleich. Von zwangsläufigen Störfaktoren wie Korruption sollten wir uns nicht abbringen lassen.

STANDARD: Ist es zu schwer, Land zu finden, oder warum sonst versucht sich niemand an dieser Idee?

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In seiner Zeit als Chefökonom bei der Weltbank machte sich Romer mit heftiger Kritik an seinen Kollegen nicht viele Freunde.
Foto: AP/Christine Olsson

Romer: Viele Menschen haben Probleme, sich mit etwas anzufreunden, das sie nicht kennen. Bisher gab es folgende Möglichkeiten: Migranten im eigenen Land willkommen heißen, in ein Land einmarschieren und versuchen, die Probleme vor Ort zu beheben, oder das politische System im Land unterstützen. Wie wir sehen, reicht das nicht. Natürlich kann man Teile der Idee verwerfen, aber wir müssen davon wegkommen, Charter-Citys nicht einmal in Erwägung zu ziehen. Mein Vorschlag ist vermutlich nicht der beste, aber er ist besser als der Status quo.

STANDARD: Stimmt es, dass Ihre Putzfrau Sie auf die Idee der Charter-Citys gebracht hat?

Romer: (Denkpause, die in Lachen resultiert.) Das stimmt tatsächlich. Lustig, dass Sie mich daran erinnern, ich hätte diese Anekdote bereits vergessen. Damals lebte ich in Chicago. Immer wenn ich ihr Geld gab, versteckte sie es in den Socken, weil ihr Heimweg so gefährlich war. Ich dachte, da muss es doch andere Lösungen geben.

STANDARD: Themenwechsel. Sie waren nur 16 Monate Chefökonom der Weltbank, dann mussten Sie wegen scharfer Kritik an Ihren Kollegen zurücktreten. Trauern Sie dem nach?

Romer: Keineswegs. Ich habe dort meine Zeit verschwendet. Bei meinem Abgang wurde ich allerdings missverstanden.

STANDARD: Was heißt das? Sie hatten ja unterstellt, Chile, die Ukraine und Weißrussland seien aufgrund politischer Ausrichtungen unrichtig bewertet worden.

Romer: Ich habe gewissen Kollegen nicht vertraut und deren Arbeit angezweifelt. Das ist etwas anderes als zu behaupten, deren Zahlen seien gefälscht. Da habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Mein Fehler. Sie stellten Behauptungen auf und formulierten diese so vage und ausweichend, dass sich Dinge in die falsche Richtung lenken ließen. Meine Kritik war ein Angriff auf mangelnde Integrität. Schlussendlich liegt die Beweislast beim Wissenschafter und nicht bei dem, der seine Arbeit anzweifelt.

STANDARD: Daraufhin wurde Sie aufgefordert zu gehen.

Romer: Ich wollte die Weltbank bereits davor verlassen, das Senior Management ließ mich aber nicht. Es hieß, mein Abgang würde die Institution kaputtmachen. Daher begann ich, meine Bedenken öffentlich zu äußern. Danach wurde mir der Rücktritt recht schnell nahegelegt.

DER STANDARD

STANDARD: Orten Sie generell Probleme in der Wissenschaft, was die Qualität der Publikationen angeht?

Romer: Es wirkt, als hätten junge Wissenschafter heute Angst. Meine Kollegen und ich machten uns weit weniger Sorgen, als wir jung waren. Das bereitet mir Sorgen und ist andererseits kein gutes Zeichen für die Wissenschaft. (Andreas Danzer, Portfolio, 2018)