Die europäische Gesellschaft ist unnachgiebig von einem Afrikabild beseelt, das besser ins 19. Jahrhundert passt als in die Gegenwart. Selbst soge nannte Fachleute reproduzieren die immer gleichen Klischeebilder von Rückständigkeit und Faulheit, so etwa die deutsche Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU), die auf die Frage, was europäische Bauern von den afrikanischen lernen könnten, nur meinte: Entschleunigung.

Auch in der sogenannten postkolonialen Zeit könnte man dem Westen ein tief verwurzeltes Interesse daran unterstellen, die Länder des afrikanischen Kontinents instabil und ökonomisch irrelevant zu halten. Die meist gutmeinende Entwicklungshilfe (im Bewusstsein der jahrhundertelangen Ausbeutung ist das Wort für viele ein Affront) wird an diesem global verankerten Zustand nichts ändern.

Dieses Dilemma gewann mit den Migrationsströmen der letzten Jahre schlagartig mehr Aufmerksamkeit. Europa wird gerade gezwungen, sich mit den kolonialen Verbrechen mancher seiner Länder auseinanderzusetzen. Eine Forderung, die Schriftsteller Aimé Césaire (1913–2008) bereits 1950 in seinem Discours sur le colonialisme gestellt hatte.

"Die selbsternannte Aristokratie" bei den Wiener Festwochen 2017
Foto: Nurith Wagner-Strauss Festwochen, Gintersdorfer

Dort, wo die Politik irgendwann hinkommen wird (müssen), ist die Kunst aber schon länger. Das unaufgearbeitete, oft nicht einmal eingestandene Schuldbewusstsein den ehedem Kolonisierten gegenüber treibt Kunstschaffende aller Sparten an. Der koloniale Blick ist, obwohl es die Postcolonial Studies bereits seit siebzig Jahren gibt, vielfach ungebrochen. Auch konzise und der Aufklärung dienende Ausstellungen und Theaterstücke offenbaren oft das hegemoniale Selbstverständnis Europas, das stete Framing der afrikanischen Bevölkerung als arm, unterdrückt, primitiv.

Im Theater hat sich nach den Jahren der ichbezogenen mitteleuropäischen Wohngemeinschaftsdramen der 1990er- und Nullerjahre ein neues Interesse an politischem Theater entwickelt, insbesondere im Kontext Afrika. Manche wie etwa der Schweizer Regisseur Milo Rau oder auch das Zen trum für politische Schönheit (ZPS) gehen aktionistisch vor und unterwerfen ihre Kunst einem postulierten Weltveränderungsziel. Milo Raus Kongo-Tribunal brachte 2015 zwei Minister zum Rücktritt. Auch Christoph Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso ist ein aktionistischer Zwitter aus Kunst- und Sozialprojekt.

Weiße Hegemonien hinterfragen

Die Postkolonialismusdebatte hat das Theater also längst erreicht. Dieses reagiert auf verschiedenen Fronten. Es nimmt – auf dramaturgischer Ebene – Perspektivenwechsel vor, erzählt also aus afrikanischer Sicht und verdeutlicht so etwa inhärenten Rassismus, z. B. in der Romandramatisierung von Balzacs Das Mädchen mit den Goldaugen (Die selbsternannte Aristokratie, Wiener Festwochen 2017). Ensembles hinterfragen zudem ihre weiße Hegemonie (Mittelreich, Kammerspiele München, 2017) oder sehen sich mit Vorwürfen der Immigranteninstrumentalisierung konfrontiert. Festivalmacher und Intendanten trachten nach Koproduktionen, die Aufklärungsarbeit leisten, federführend ist u. a. der südafrikanische Regisseur Brett Bailey, der mit seinem Macbeth (Festwochen 2014) das Nachwirken postkolonialer Gewalt aufzeigte.

"Mittelreich", Kammerspiele München 2017
Foto: Judith Buss

Ein häufiger Vorwurf: Immer seien es bewegende Analysen eines zerstörten Kontinents, an deren Ende das europäische Publikum sich dann die Schuldgefühle aus dem Leib klatscht. Zuletzt erforschte Regisseur Jan-Christoph Gockel in Die Revolution frisst ihre Kinder am Schauspielhaus Graz den Grat zwischen Post- und Neokolonialismus. Er nahm die selbstgerechte Haltung einer Regisseurin (sein Alter Ego) aufs Korn, die mit Georg Büchners Dantons Tod im Gepäck dem afrikanischen Publikum die Werte der Aufklärung überbrachte. Gockel problematisierte so die Fallen interkultureller Kunsttransfers.

"Man kann nur Fehler machen, aber Nicht-Tun ist für mich keine Option", sagt Gockel, der mehrfach Kolonialstoffe aufgegriffen hat (Das Herz der Finsternis, Kongo! Eine Postkolonie). Durch zahlreiche Besuche in afrikanischen Ländern vertritt der Regisseur aber auch einen produktiv-praktischen Zugang: "Der europäische Reflexionskomplex bringt es mit sich, dass wir oft in Scheindiskussionen verharren und nichts weitergeht."

"Die Revolution frisst ihre Kinder", aktuell im Schauspielhaus Graz
Foto: Lupi Spuma

Hitzig diskutiert wird auch im Museumsbetrieb. In den letzten Jahren etwa über die Kunst- und Kulturgüter, mit denen man sich in kolonialer Zeit die eroberten neuen Welten heimholte und die man seither in den ethnologischen Museen und sogenannten Weltmuseen verwahrt. In der aktuell besonders brisanten Rückgabedebatte sorgt sich die Politik vordringlich um Fragen der Eigentumsverhältnisse. Und auch die Wissenschaft ist mehr um die Erforschung der Provenienzen bemüht. Unterbelichtet bleibt der Umgang mit kolonialer Geschichte. Das Wort "Kolonialismus" würde im Deutschen Historischen Museum in der Beschreibung des Epochenbereichs 1871–1918 nicht einmal vorkommen, kritisiert der Postcolonial-Experte Eric Otieno.

Trotz des Bekenntnisses der deutschen Regierung, die Erinnerung an Verbrechen der Kolonialzeit sei Teil der Gedenkkultur, betreibt ihr Afrika-Beauftragter Revisionismus: Die Kolonialzeit habe dabei geholfen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen, erklärte dieser in einem Interview. Ein deutsches Szenario, das jedoch ein allgemeines Symptom verdeutlicht.

Wilhelm Kuhnerts "Löwe" (ohne Jahresangabe) ist auch von den Ausmaßen her monumental: 165 mal 327 Zentimeter miss die Leinwand (Fort Worth Zoological Association).
Foto: Jeremy Enlow

Denn angesichts der auch schon in die Jahre gekommenen Postcolonial Studies – Edward Saids wegweisendes Werk Orientalism erschien 1978 – könnte man glauben, der kritische Umgang mit kolonialem Erbe sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und auch, dass man inzwischen komplexere Bilder vom afrikanischen Kontinent zeichnen kann als jenes vom exotischen Sehnsuchtsort.

Dass es nicht einmal Experten gelingt, ihre Disziplin im historischen Kontext darzustellen, führt aktuell die Ausstellung König der Tiere über den kolonialen Tiermaler Wilhelm Kuhnert (1865–1926) in der Frankfurter Schirn (bis 27. 1.) vor.

Wilhelm Kuhnert in seinem Atelier
Foto: Nachlass Wilhelm Kuhnert

Das Bild von Afrika heißt es im Untertitel: Jedoch transportieren die Macher das von Kuhnert vermittelte Bild "Deutsch-Ostafrikas", also von Tansania, Burundi, Ruanda, als einer zu erobernden Wildnis, ungebrochen weiter. Die Großwildjagd war für den Profiteur des Kolonialismus Geste und Ritual der Herrschaft. Ihn, der im Maji-Maji-Krieg (300.000 Tote) sogar beherzt zur Waffe griff, beschreibt man als risikobereiten, weltgewandten Mann mit dem "Willen zur Erkundung".

Hatte Hausherr Philipp Demandt den Maler 2015 (damals als Direktor der Alten Nationalgalerie Berlin) noch ungestraft von Kritik und Publikum würdigen können, so war die Öffentlichkeit nun wohl aufgrund der aktuellen Debatten sensibilisiert. Die Kunsthalle Schirn musste reagieren. In neuen Wandtexten verdeutlicht man nun einige Wochen nach Ausstellungsstart Kuhnerts Rolle als Nutznießer und Befürworter der Kolonien. Zu lesen ist dort etwa: "Kuhnert war in doppelter Hinsicht Nutznießer des Kolonialismus. So profitierte er auf seinen Reisen von der kolonialen Infrastruktur aus Routen, Militär- und Missionsstationen. Durch die Propagierung der Kolonien in pro-kolonialen Zeitschriften und Kolonialausstellungen entstand in Deutschland ein großer Markt für seine Bilder."

Einblick in die Ausstellung "König der Tiere" in der Frankfurter Schirn
Foto: Norbert Miguletz

Aber nicht nur die historischen Afrika-Bilder sind heikel, auch die Präsentation des autochthonen Kunstschaffens birgt viel Angriffsfläche. Historisch etwa die Schau im New Yorker Moma 1984: "Primitivism" in 20th Century Art: Affinity of the Tribal and the Modern. Die Ausstellung positionierte sogenannte Stammeskunst vis-à-vis von Arbeiten Picassos oder Gauguins. Dass man die impulsgebenden Werke auf ihren ästhetischen Wert reduzierte, stieß auf Kritik. Magiciens de la Terre lautete die Antwort 1989 im Pariser Pompidou: Nicht geografische, sondern individuelle Gesichtspunkte standen nun im Fokus. Auch dieses Konzept fiel durch. Man könne Kunst um der Kunst willen und Arbeiten aus anthropologischen Zusammenhängen nicht auf die gleiche Stufe stellen.


Moke: "Nganda Moke" (1992) (Sammlung Lucien Bilinelli, Brüssel/Mailand)
Foto: Kunsthaus Graz ( Collection Lucien Bilinelli, Bruxelles/Milan)

Eine des postkolonialen Diskurses würdige Ausstellung zu machen ist ein Wagnis. Aber "ein lohnendes", so Günter Holler-Schuster, Mitkurator der Ausstellung Congo Stars im Kunsthaus Graz (bis 27. 1.). Sie erzählt eine Geschichte des Landes als Multiperspektive. Beispielsweise mit Kunst, die am globalen Markt angedockt hat, aber insbesondere mit populärer Malerei, die mit viel nackter Körperlichkeit oder improvisierten Infrastrukturen manches Klischee vom prallen bunten Leben oder vom Primitivismus zu bestätigen scheint. Aber sexuelle Gewalt, Prostitution und Slums stellen dort eine starke Realität dar. Kann man das also ausblenden, weil es zur Klischeebildung beiträgt?

Ob man sich das antue, sich der unausweichlichen Kritik zu stellen, diese Frage sei durchaus im Raum gestanden. Denn freilich produziere man Widersprüchlichkeiten, so Holler-Schuster. "Man kann nur versuchen, die Probleme und Dilemmata mitzudenken, sie offen auf den Tisch zu legen. Nur so kommt man den Dingen näher." (Margarete Affenzeller, Anne Katrin Feßler, 1.12.2018)

Monsengo Shula: "Roi satellite", 2012 (Farida and Henri Seydoux Collection)
Foto: Farida and Henri Seydoux Collection © westudio.fr