Die jahrzehntelange Geschichte des Stammtisches - ein Dreivierteljahrhundert - lässt die Komplexität von Flüchtlingsexistenzen zwischen zwei Welten erahnen. Trotz schrecklicher Erfahrungen will man sich in der Sprache der verlorenen Heimat unterhalten, die Verbindung aufrechterhalten, sich gemeinsam erinnern. 

Geschichte des Stammtisches

Der Stammtisch wurde ursprünglich vom bayerischen Schriftsteller Oskar Maria Graf und dem Wiener Kaufmann George Harry Asher gegründet. Es war dies eine Runde für von den Nationalsozialisten Vertriebene und viele der ursprünglichen Teilnehmer sind mittlerweile verstorben, wie zum Beispiel Kurt Sonnenfeld, Wiener Sozialarbeiter und Wissenschaftler; und Gaby und Fritz Glückselig: sie aus Wiesbaden und langjährige Gastgeberin des Stammtisches, er ein Autor aus Wien. Der Treffpunkt des Stammtisches hat sich in diesen Jahrzehnten häufig verändert. Anfangs traf man sich in Restaurants und Kaffees, unter anderem um Fleisch zu essen, das sonst streng rationiert war. In der jüngeren Vergangenheit dienen verschiedene Privatwohnungen als Treffpunkte.

Die Grundregeln des Treffens sind seit 75 Jahren die gleichen: Man spricht Deutsch und diskutiert über Politik und Kultur auf beiden Seiten des Atlantiks. Man redet sich beim Vornamen an und duzt sich, isst und trinkt gemeinsam, manchmal Palatschinken, und ein Neuankömmling muss sich der Runde vorstellen. Eine Glocke wird verwendet, um die geschwätzige Runde zum Schweigen zu bringen, wenn sich jemand an alle wenden möchte.

Die Glocke, die beim Stammtisch verwendet wird.
Stella Schuhmacher

Keine religiöse Runde sondern eine kulturelle

Trudy, 93 Jahre alt, ist die derzeitige Gastgeberin des Stammtisches. Sie stammt aus einer jüdischen Wiener Bankier-Familie und ist 1939 mit ihrer Familie aus Wien nach New York emigriert, nachdem ihr Großvater monatelang in Dachau interniert gewesen war. "Wir hatten großes Glück. Eine entfernte Verwandte in New York hat uns allen ohne Zögern Affidavits besorgt", sagt sie. Sie sieht sich selbst nicht als Holocaust-Überlebende, da sie völlig unbeschadet entkommen ist. Einige Familienmitglieder sind allerdings in Konzentrationslagern ermordet worden.

Trudy ist Künstlerin, sie stellt Schmuck her und fotografiert. Sie sagt, dass der Stammtisch ihren Wochen Struktur verleihe. Anstrengend sei es aber doch, vor allem, weil sie regelmäßig für die Runde einen Kuchen backe und dann alles aufräumen müsse. Ihr ist auch wichtig, dass der Stammtisch nicht als religiöse Runde verstanden wird, sondern eher als kulturelle.

Die Gruppe ist nun vom Alter her gemischter als sie das ursprünglich war und häufig stoßen Gedenkdiener oder Besucher aus Österreich dazu. Thomas, in New York lebender Physiklehrer aus Salzburg, hilft zurzeit bei der Organisation. Peter, emeritierter Physikprofessor an der TU Wien und Buchautor, und seine Frau Kitty sind regelmäßige Gäste. Arnold Greissle-Schönberg, ein Enkel vom Komponisten Arnold Schönberg, ist ebenfalls Mitglied.

Eine Stammtischrunde
Stella Schuhmacher

Ein Stammtisch mit Fanny

Am Mittwoch vor einigen Wochen überredete ich meine 94-jährige Bekannte Fanny, mich zum Stammtisch zu begleiten. Fannys Familie war Opfer der Novemberpogrome in Wien, sie hat Schwester und Vater in Auschwitz verloren und Wien allein im Jahr 1939 Richtung Palästina und New York verlassen. Oft geht sie am Abend nicht mehr aus. Sie freut sich und hat sich sehr hübsch zurechtgemacht. Sie trägt einen gehäkelten lila Hut mit Brosche, den ihre Enkelin angefertigt hat. Sie sieht wunderbar aus. Da es ihr erster Besuch beim Stammtisch ist, hat sie Bedenken, ob sie sich noch auf Deutsch unterhalten kann, das sie eigentlich nie mehr spricht.

Trudy, die Gastgeberin, begrüßt uns herzlich. Auch sie sieht sehr schön aus, trägt einen langen bunten Rock und selbstgemachten Schmuck. Trudy und Fanny scheinen sich sehr zu freuen, einander kennenzulernen. Sie fangen an, sich über die Bezirke ihrer Kindheit zu unterhalten: Trudy ist in Hietzing aufgewachsen, Religion spielte keine Rolle. Fanny lebte im 2. Bezirk in einem sehr religiösen Umfeld. Man redet über die Lieblingsorte der Kindheit, Sommer im Ausseerland und in Bad Vöslau.

Fanny erzählt über ihre erste Reise nach Österreich, 50 Jahre nach der Vertreibung aus der Heimat. Ihr Trauma ist nach wie vor zu spüren und der Besuch im Wien ihrer Kindheit kostete sie damals sehr viel Überwindung. Trudy geht unbelasteter mit der Vergangenheit um und erzählt strahlend über ihre häufigen Wienbesuche. Sie hat sogar in den frühen 60er Jahren für ein paar Jahre dort gelebt. Mit der ebenfalls über neunzigjährigen Marion, der dritten Holocaust Überlebenden an diesem Abend, wird auch über deren Erinnerungen an Deutschland geplaudert.

In das Gespräch vertieft: Trudy und Fanny
Stella Schuhmacher

Mühelos fließt das Gespräch auf Deutsch dahin und das Wienerisch ihrer Kindheit kommt bei Fanny und Trudy eindrucksvoll durch. Obwohl Fanny mehrmals erklärt, dass sie seit 80 Jahren niemals Deutsch gesprochen hat, unterhält sie sich fließend und akzentfrei. Auch jiddische Worte werden hie und da eingeworfen, was alle zum Schmunzeln bringt. Trudy erklärt, dass sie deshalb so zufrieden sei, in New York zu leben, weil Jiddisch hier einfach in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist.

Wir speisen ausgezeichnete hausgemachte Hamantaschen mit Powidlmarmelade. Fanny redet über Hanukkah, das im Dezember beginnt, und sucht nach dem deutschen Wort für die mit Marmelade gefüllten „Doughnuts“, die traditionell für dieses Fest zubereitet werden. Ich helfe ihr: ”Krapfen!“ Sie strahlt und sagt: „Ja! Faschingskrapfen! Mit echter Marmelade gefüllt!“ Am Schluss kommt jemand auf Politik und Präsident Trump zu sprechen. Trudy meint lachend, sie hätte gehofft, einmal eine Woche ohne die Nennung Trumps auskommen zu können. Die politische Situation sowohl in Amerika also auch in Österreich bereite ihr im Moment große Sorgen.

Größte Hanukkah Menora der Welt, Midtown Manhattan
Stella Schuhmacher

Fanny und ich verabschieden uns als erste. Sie ist müde und hat auch ihrem Sohn in Kalifornien versprochen, noch anzurufen. Nachdem ich sie zu Hause abliefere, gehe ich zu Fuß nach Hause und meine Gedanken kreisen um den gerade erlebten Abend. Ein seit 75 Jahren wöchentlich stattfindender Stammtisch, bei dem sich aus Deutschland und Österreich von den Nazis Vertriebene und deren Familienangehörige und Freunde treffen, über die verlorene Heimat auf Deutsch plaudern und einfach einen netten Abend miteinander verbringen. Ein schönes, bewegendes und zum Nachdenken anregendes Erlebnis. (Stella Schuhmacher, 13.12.2018)

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