Bevor der Vater nach Hause kommt, scheißt der Hund noch die Einfahrt voll. Der Beginn des Feierabends ist dann immer eine mittlere Katastrophe. Denn der amerikanische Straßenkreuzer ist für das bürgerliche Haus in Mexiko-Stadt eigentlich viel zu groß, und der Vater ist nicht gerade der geduldigste Chauffeur. So gestaltet sich sein Heimkommen als Zeremonie mit Blechschaden – und verdreckten Autoreifen.

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Nicht die Ewige Stadt, sondern das Viertel Colonia Roma in Mexiko-Stadt steht im Fokus von "Roma".
Foto: AP/Netflix

Die Hundehaufen sind in Alfonso Cuaróns Film Roma dabei so etwas wie die Madeleines. Während in dem bis heute maßgeblichen Erinnerungsroman Marcel Prousts das ovale Törtchen die Gerüche und den Geschmack der Kindheit für alle Zeiten aufbewahrt hat, verbindet sich für den großen Filmemacher Cuarón die Kindheit mit den zerquetschten Hinterlassenschaften des Familienhunds, und mit dem Dienstmädchen, das die Einfahrt säubern muss. Das Wasser beseitigt schließlich alle Spuren, und aus dem Schaum des Abflusses entsteht – wie in einer Spiegelung – das frühere Leben eines Mannes, der inzwischen in Hollywood zu den erfolgreichsten Künstlern gehört und in seiner Karriere buchstäblich den Himmel gestürmt hat.

Seit Cuarón in Gravity (2013) George Clooney und Sandra Bullock im Orbit hoch über der Erde schweben ließ, hat der gebürtige Mexikaner in Amerika alle Freiheiten. Und so kam es, dass der Streamingdienst Netflix ihm die Gelegenheit zu einem sehr speziellen Projekt gab: Roma, ein wehmütiger, wunderschöner Schwarz-Weiß-Film, ist eine autobiografische Geschichte, die mit der italienischen Hauptstadt nichts zu tun hat. Mit Roma ist vielmehr das Stadtviertel Colonia Roma in Mexiko-Stadt gemeint, in dem Cuáron aufwuchs. Der Film des 1961 Geborenen spielt in den frühen 1970er-Jahren und damit auch in einer Zeit politischen Aufruhrs, als die Regierung massiv gegen linksgerichtete Studenten und gegen die lokalen Ausprägungen der gesellschaftsverändernden Impulse von 1968 vorging.

Trailer zu "Roma".
Netflix

Die entscheidende dramaturgische Pointe liegt in dem Umstand, dass das indigene Dienstmädchen Cleo die Hauptfigur wird. Zu Beginn hat sie einen kleinen, vertrauten Moment mit dem jüngsten Buben der Familie – da schlägt der Film eine Klammer von der Kindheit zum (immer schon mitbedachten) Tod, von der Vergangenheit in die Melancholie der Erinnerung. Von diesem Moment an trägt Cleo gewissermaßen die Handlung. Sie ist das erwachsene Medium für Dinge, für die der Regisseur damals eben noch zu jung war, aber auch für soziale Zusammenhänge, die sich ihm als Sohn einer Familie aus besseren Kreisen nur mittelbar erschlossen.

Familienvater geht verlustig

Die Verlusterfahrungen beginnen damit, dass das abendliche Ritual mit dem Vater eines Tages entfällt. Er kommt nicht mehr. Eine Weile ist er offiziell auf Dienstreise in Europa, irgendwann lässt sich nicht mehr verheimlichen, dass er die Familie verlassen hat. Den Ford Galaxy hat er dagelassen. Für Cleo ist die Verantwortung nun noch größer, dabei hat sie auch eigene Probleme: Sie ist nach einer kurzen Beziehung mit einem Mann schwanger geworden.

Obwohl Roma im Grunde für das Heimkino gedacht ist, sind die ästhetischen Prämissen in jeder Hinsicht auf das richtige Kino hin gemünzt. Die Entscheidung von Netflix, gegen die bisherige Politik nun auch einen Kinostart zu ermöglichen, ist also naheliegend. Und Cuarón scheint es sogar ausdrücklich darauf angelegt zu haben: Eine der Schlüsselszenen erzählt eben von einem Kinobesuch, und zwar in einem Saal, der so opulent ist, dass man nicht anders kann, als eine Verbindung zu ziehen zwischen den einstigen Kinopalästen und den Endgeräten, für die Roma bei Netflix ursprünglich gedacht war.

Cuarón lässt in Roma mehrere Prozesse parallel laufen: eine individuelle Sozialisation in einer vaterlosen Familie, die de facto eine Art Matriarchat bildet, dazu erste Schritte zu einer noch weitgehend unbegriffenen politischen Parteinahme, die in einer großen Sequenz am Rande des sogenannten Corpus-Christi-Massakers 1971 gipfeln. Und dazu kommt das, was man heute häufig als die Medienbiografie bezeichnet: Lebensgeschichten sind zunehmend die Geschichten von Medienwechseln. Einer der Filme, die in Roma auftauchen, ist das Science-Fiction-Drama Verschollen im Weltraum (1969) von John Sturges. Ein markantes Bild daraus wirkt wie ein Vorgriff auf den Alfonso Cuarón von Gravity. In Roma schaut dieser wiederum im Rückblick so großartig auf die Momente zurück, in denen er sich als Bub für die Welt und das Kino geöffnet hat. (Bert Rebhandl, 6.12.2018)