Die Zahl jener, die im Freien oder in Zelten schlafen, steigt – in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent. Will man ihnen helfen, wählt man das Kältetelefon.

Foto: Christian Fischer

Ganz wichtig sind Zigaretten. Damit baut Susanne Peter die erste Hürde ab. Nur wenn sie einen Zugang findet, kann die Projektleiterin und Streetworkerin vom Kältetelefon Menschen auf der Straße anbieten, in ein Notquartier zu kommen – oder ihnen zumindest einen Schlafsack dalassen.

Doch dafür muss sie sie erst finden. Hinweise dafür kommen übers Kältetelefon. Mehr als 1.500 Leute haben allein seit 1. November die Nummer 01/480 45 53 gewählt und einen wohnungslosen, frierenden Menschen in Wien gemeldet. 70 Freiwillige nehmen die Anrufe entgegen, 50 weitere sind bei sich zu Hause und bereit zu dolmetschen. Anhand der Anrufe werden Routen festgelegt, dann machen sich Sozialarbeiter auf den Weg und gehen den Meldungen nach.

DER STANDARD

Der Kofferraum des Kältebusses ist vollgepfercht mit Schlafsäcken, Decken, Handschuhen, Mänteln. Nur Winterschuhe sind knapp, davon wurden in letzter Zeit viele gebraucht und wenige gespendet. Den Ring entlang, links leuchtet die Weihnachtsbeleuchtung, rechts leuchten Schilder von Restaurants und Pubs, fährt Peter zum ersten Platz.

Heute ist das eine Baustelle irgendwo im Zentrum Wiens. Nichts ist hier bis auf einen abgestellten Lkw und eine Asphaltwalze. Der Wind kriecht unter die Jacke. Frau Peter war gestern schon hier, doch sie hat den Ort, der ihr beschrieben worden war, nicht gefunden. Die Dame, die ihn gemeldet hatte, ist nun wieder am Telefon. "Am Zaun entlang oder geradeaus?", fragt Peter ins Telefon.

Tief ins Dickicht

Dann marschiert sie Richtung Gebüsch, leuchtet sich mit einer starken Taschenlampe den Weg zwischen tief hängenden Ästen aus. Dreimal um die Ecke, immer tiefer ins Dickicht, erreicht sie schließlich ein grünes Zelt. "Ich bin von der Caritas", ruft sie. Viele würden glauben, die Polizei komme, wenn sie den Lichtkegel sehen, sagt Peter. Der Reißverschluss wird von innen geöffnet, eine junge Frau steckt den Kopf heraus.

Obdachlosigkeit wird weiblicher: Ein Drittel der erwachsenen Klienten in der Wiener Wohnungslosenhilfe sind Frauen. Ein Drittel jener, die sich wegen Wohnproblemen erstmals an die Caritas wenden, ist unter 30.

Jeder der will, bekommt Platz

Die Frau sitzt nun im Schneidersitz am Zelteingang, am Körper zwei Westen, unter ihr fünf Decken. Hinter ihr: die Gesichter einer weiteren Frau, eines Mannes und eines Dackelmischlings. Tagsüber würde ihr Freund betteln, jeden zweiten Tag würden sie beim Canisibus, dem Suppenbus der Caritas essen, erzählt sie. Ins Notquartier wollen die drei nicht. Warum, das können sie nicht ganz erklären.

Dabei gebe es im Winter 1.200 Notquartierplätze in Wien. "Wer jetzt ins Notquartier will, der bekommt einen Platz", sagte Susanne Peter ein paar Minuten zuvor im Bus. Doch viele, so die Sozialarbeiterin, würden sich schämen, hätten psychische Erkrankungen, wegen derer sie nicht woanders hinwollen. Oder sie hätten Angst, als Sozialschmarotzer zu gelten. Außerdem wolle nicht jeder in ein Mehrbettzimmer – Pärchenzimmer oder Quartiere, in denen Hunde erlaubt sind, seien rar.

Einmal brannte das Zelt

Seit zwei Jahren seien die drei ohne Wohnung, sagt die junge Frau und zieht an einer Zigarette, seit einem halben Jahr leben sie hier im Zelt. "Hier ist ein guter Platz", sagt sie, das Gestrüpp schützt vor dem Wind. Und: "Niemand stört uns." Damit das so bleibt, soll nicht in der Zeitung stehen, wo der Schlafplatz ist. Letztes Jahr, sagt die Frau, kamen Leute und hätten ihr Zelt angezündet.

Aktuell sind rund 15.000 Menschen in Österreich registriert wohnungslos. Heuer haben sich fast 10.000 an die Erstanlaufstelle für akut wohnungslose Menschen der Caritas gewandt. An das Beratungszentrum Wohnungslosenhilfe des Fonds Soziales Wien kamen 7.400 Anfragen. Wie viele Menschen versteckt obdachlos sind, weiß niemand.

Zu manchen ihrer Klienten hat Peter jahrelang Kontakt, andere verliert sie aus den Augen. Die drei im Zelt und ihren Hund bringt sie nicht in ein Notschlafquartier. Sie sind gut ausgestattet, befindet die Sozialarbeiterin, man könne sie vorerst allein lassen. In ein paar Wochen wird sie wieder vorbeischauen. Am Ende des Gesprächs geht sie zurück zum Bus und holt Schlafsäcke – und eine Packung Butterkekse, das stärkt die Beziehung. (Gabriele Scherndl, 14.12.2018)