Eigene Agenden forcieren – und andere abwürgen

Sebastian Kurz ist nicht nur Meister im "Agendasetting", wie erfolgreiches Themensetzen im Politsprech heißt, sondern auch im "Agendacutting", sagt Experte Thomas Hofer. Beispiel: Als der Streik der Metaller drohte, berief der Kanzler frühmorgens eine Pressekonferenz zu einem russischen Spion beim Heer ein – der zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal festgenommen war. Prompt war der Pensionist Topthema.

So perfekt wie die Frisur sitzen seine Sätze: "Das Sterben im Mittelmeer muss ein Ende haben", doziert der Kanzler gern in Wien wie in Brüssel – da können 99 Prozent mit.
Foto: Heribert Corn

Einfache Sätze statt komplexen Politsprechs

So perfekt wie die Frisur sitzen seine Sätze: "Das Sterben im Mittelmeer muss ein Ende haben", doziert der Kanzler in Wien wie in Brüssel. Da stimmen 99 Prozent der Menschen zu. In Nebensätzen setzt Kurz mitunter NGO-Schiffe mit Schleppern gleich – was nur eine Minderheit aufregt. Obwohl das Flüchtlingsjahr 2015 Geschichte ist, sagte er auch heuer wieder: "Das Weiterwinken muss beendet werden!"

Selige Eintracht statt böser Streiterei

Selbst wenn der Kanzler und sein Vize Heinz-Christian Strache (FPÖ) aneinander vorbeireden, "hat man den Eindruck, zwischen die beiden passt kein Blatt", sagt Kommunikationsspezialistin Heidi Glück. Obwohl Türkis und Blau bei der Notstandshilfereform oder der Ansiedlung der Uni von George Soros Welten trennen: Dissonanzen in der Koalition werden totgeschwiegen, es lebe die Harmonie!

Leistung, aber vor allem Loyalität zählt

Durch ihn und mit ihm ist die ÖVP stimmenstärkste Partei – und in ihm ruht nun die Kanzlerschaft: Viele Ministerämter hat Kurz mit jahrelang bewährten Vertrauensleuten besetzt, der türkise Parlamentsklub besteht wegen seines Durchgriffsrechts bei der Listenerstellung zu einem Gutteil aus Neulingen. Breite Debatten sind in der ÖVP von gestern, jetzt herrscht absolute Loyalität gegenüber dem Obmann.

Die alte ÖVP ist Geschichte, neue Gebote gelten

Was aufmüpfige Landeschefs betrifft, ist längst Rot das alte Schwarz, scherzt ein Bürgerlicher: Während Oppositionschefin Pamela Rendi-Wagner mit Querschüssen von Ludwig, Doskozil und Co rechnen muss, begehren die ÖVP-Landesfürsten gegen Kurz' Vorgaben am Wiener Ballhausplatz kaum auf. Denn das oberste Gebot in der Kanzlerpartei lautet: "Anpatzen verboten!" Gilt aber nicht für die SPÖ.

Eiserne Selbstdisziplin geht über alles

Selbst ÖVPler aus dem innersten Zirkel kennen ihn nicht abgekämpft: Auch nach unzähligen Terminen wirke der Chef stets "wie frisch geduscht", heißt es. Egal wie arg der Koalitionspartner entgleist, egal wie sehr die Opposition nervt, Kurz wahrt die Contenance mit salbungsvollen Gesten. Nur bei einer Bleiberechtsdebatte im Ländle schmiss er die Nerven weg – und zog über die dortigen Zustände her.

Zuhören statt reden ohne Punkt und Komma

Anders als Regierungspartner Strache, der zu schier endlosen Wortkaskaden neigt, dosiert Kurz seine Botschaften. Sowohl beim Bad in der Menge als auch beim Austausch mit anderen Granden fällt auf: Der Kanzler hört geduldig zu, statt umgehend auf Mansplaining zu schalten. Politbeobachter Hofer attestiert Kurz deswegen "hohe Lernfähigkeit – ein Geilomobil passiert ihm garantiert nie wieder". (Nina Weißensteiner, 15.12.2018)