Das Jahr 2018 brachte für Deutschland ein umfassende Debatte über Schwangerschaftsabbrüche – insbesondere über das Recht auf umfassende Information darüber.

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Kristina Hänel: "Die Macht der Männer über Sexualität und Fruchtbarkeit der Frauen scheint schwer aufzugeben zu sein."

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Kristina Hänel hat einen vollen Terminkalender: Wenn die Ärztin sich nicht gerade ihren PatientInnen widmet, beantwortet sie Presseanfragen, diskutiert im Radio mit PolitikerInnen oder informiert auf Twitter über aktuelle Protestveranstaltungen. Die 62-jährige Allgemeinmedizinerin, die in ihrer Gießener Praxis auch Schwangerschaftsabbrüche durchführt, ist das Gesicht des Kampfes gegen Paragraf 219a, der in Deutschland "Werbung" für Abtreibung unter Strafe stellt (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren). 2017 war Kristina Hänel wegen entsprechender Hinweise auf ihrer Webseite zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt worden. Sie legte Berufung ein, scheiterte damit im Herbst jedoch vor dem Landgericht Gießen. Entmutigen lässt sich Hänel davon nicht: Gemeinsam mit Kolleginnen und feministischen Aktivistinnen kämpft sie für Rechtssicherheit für ÄrztInnen und bessere Bedingungen für Frauen, die eine Schwangerschaft nicht austragen wollen.

STANDARD: Die große Koalition in Deutschland hat vor kurzem ein Kompromisspapier zum umstrittenen Paragrafen 219a vorgelegt. Die geplante Reform bezeichnen Sie in einer Aussendung als "Nullnummer". Sind Sie von der Regierung enttäuscht?

Hänel: Ja, ich habe mir mehr erwartet. Ich hätte mir zumindest erwartet, dass tatsächlich ein Kompromiss vorgestellt wird, und nicht, dass die radikalen Teile der CDU/CSU sich auf ganzer Linie durchsetzen. Von der angekündigten Rechtssicherheit für uns Ärztinnen und Ärzte sehe ich nichts. Unter dem Strich bedeutet es, dass meine Website weiterhin strafbar bleibt.

STANDARD: Ihr Fall hat international für Aufsehen gesorgt und in Deutschland eine breite Debatte über Schwangerschaftsabbruch ausgelöst. Warum wird die jahrzehntelang bestehende Regelung erst jetzt diskutiert?

Hänel: Weil der Paragraf 219a nie beachtet wurde. Als Abtreibung unter bestimmten Bedingungen straffrei gestellt wurde, wollte man trotzdem Restriktionen ins Gesetz schreiben. 219a geriet in Vergessenheit, bis ihn Abtreibungsgegner entdeckten und begannen, Ärzte zu jagen. Hunderte Ärzte sind bereits angezeigt worden, die meisten Verfahren wurden allerdings eingestellt.

STANDARD: Welches Frauenbild steckt eigentlich hinter diesem Gesetz, das öffentliche Informationen zur Durchführung von Abtreibung als Werbung fasst?

Hänel: Es steckt die Idee dahinter, eine Frau könnte sich wegen eines Textes, den ein Arzt veröffentlicht, zu einem Schwangerschaftsabbruch verleiten lassen. Das ist absurd. Es ist unverantwortlich, ungewollt Schwangere von wichtigen Informationen abzuschneiden. Und dann wird ernsthaft argumentiert, dass so ungeborenes Leben geschützt werden soll. Dass restriktive Gesetze Frauen nicht von einem Schwangerschaftsabbruch abhalten, zeigt sich ja weltweit. Selbst wenn man Frauen zu Analphabetinnen machen würde, würden sie Abbrüche durchführen.

STANDARD: Wie das ARD-Magazin "Kontraste" berichtete, ist die Zahl der ÄrztInnen, die in Deutschland Abtreibungen durchführen, in den vergangenen 15 Jahren deutlich gesunken. Wie erleben Sie die Situation unter KollegInnen?

Hänel: Viele von uns geraten in eine Vereinzelung. In kleinen Städten gibt es oft nur noch eine Praxis, in der Abbrüche durchgeführt werden. Auch Morddrohungen von Abtreibungsgegnern schüchtern natürlich ein. Hinzu kommt die unsichere Rechtslage, wir erleben, dass der Staat sich quasi auf die Seite unserer Verfolger stellt. Da braucht man schon ein breites Kreuz, um das alles auszuhalten. Die Situation hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt zugespitzt. In Bayern gibt es bereits den Trend, dass Frauen für einen Abbruch nach Österreich fahren, weil sie in bestimmten Regionen keine Ärzte mehr finden.

STANDARD: Wer in Deutschland eine Schwangerschaft abbrechen möchte, muss verpflichtend eine Beratung in Anspruch nehmen und eine Bedenkzeit von drei Tagen einhalten. Auch in Österreich gibt es Stimmen, die dieses Modell fordern. Nützt es den ungewollt Schwangeren?

Hänel: In Frankreich wurde die Bedenkzeit gerade abgeschafft, weil Frauen ihre Entscheidung deshalb nicht ändern. Ich habe selbst eine Studie durchgeführt, um herauszufinden, wann Frauen sich für einen Abbruch entscheiden. Und das hat mit der Bedenkzeit rein gar nichts zu tun, sie ist also nutzlos.

STANDARD: Buzzfeed Deutschland berichtete vor kurzem darüber, wie Abtreibungsgegner versuchen, in vermeintlichen Beratungsgesprächen Frauen zu beeinflussen. Kennen Sie solche Erzählungen auch von Ihren Patientinnen?

Hänel: Ja, ich habe Frauen getroffen, die, ohne es zu merken, in solche telefonische Beratungen geraten sind und sich verhört und gedemütigt gefühlt haben. Leider gibt es auch offizielle Beratungsstellen, die Frauen keine Adressen für einen Abbruch geben, weder über die Methoden des Eingriffs noch über eine mögliche Kostenübernahme informieren. Die Betroffenen rufen dann bei uns an, und wir leisten die Aufklärungsarbeit, die eigentlich in den Beratungsstellen passieren müsste.

STANDARD: Erleben Sie in Ihrer Praxis auch Frauen, die sich schämen und den Abbruch vor ihrem Umfeld verheimlichen?

Hänel: Dauernd. Im Grunde ist das die Normalität. Viele würden sich sogar selbst zu Abtreibungsgegnerinnen zählen und kommen dann plötzlich in eine Situation, in der sie ihr bisheriges Denken infrage stellen. "Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich diesen Schritt einmal gehe", höre ich immer wieder. Es ist sehr einfach, Abtreibung zu verteufeln, wenn man nicht selbst in der Situation ist. Diese Doppelmoral zeigt sich aktuell rund um die Skandale in der katholischen Kirche besonders deutlich. Wenn ein katholischer Priester ein Mädchen missbraucht hat und es zu einer Schwangerschaft gekommen ist, wird er der Erste sein, der auf einer Abtreibung besteht.

STANDARD: Die australische Wissenschafterin Erica Millar berichtet in ihrem Buch "Happy Abortions" darüber, wie erleichternd viele Frauen einen Schwangerschaftsabbruch erleben – während in der öffentlichen Debatte das vermeintliche Trauma dominiert. Auch die deutsche Regierung hat eine Studie zu den seelischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen angekündigt.

Hänel: Die Studienlage dazu ist ja eindeutig, das macht den aktuellen Entwurf der Regierung so peinlich. Die Behörde des Gesundheitsministers hat erst 2017 dazu etwas veröffentlicht, offensichtlich lesen sie ihre eigenen Papiere nicht. Eine ältere Studie besagt zudem, dass das Risiko für Frauen, im Zusammenhang mit einem Abbruch psychisch zu erkranken, durch die Schwangerschaft an sich entsteht, nicht durch die Entscheidung, die sie treffen. In meiner Praxis erlebe ich Frauen, die traurig und befreit zugleich sind. Seelische Folgen ergeben sich meist aus der gesellschaftlichen Stigmatisierung. Nachdem ich jetzt in der Öffentlichkeit stehe, melden sich Frauen bei mir, die ich vor zehn, zwanzig Jahren behandelt habe und die mir erzählen, wie wichtig es für sie war, dass ich sie mit ihrer Entscheidung akzeptiert habe. Wenn Frauen noch unsicher sind, wenn sie zu mir kommen, schicke ich sie noch mal weg. Aber wenn sie sich für einen Abbruch entschieden haben, muss es die beste medizinische und psychosoziale Versorgung geben.

STANDARD: AbtreibungsgegnerInnen befinden sich in den USA und quer durch Europa im Aufwind. Dort, wo Rechte erstarken, wird meist auch der Schwangerschaftsabbruch zum Thema. Warum entzündet sich der Kampf um gesellschaftliche Werte gerade hier?

Hänel: Der Zugriff auf Frauenkörper und die Kontrolle von Fruchtbarkeit waren immer schon wesentliche Punkte. Früher war es die Macht des Vaters in der Familie, die darüber bestimmte, welche Schwangerschaft ausgetragen wird. Diese Macht der Männer über Sexualität und Fruchtbarkeit der Frauen scheint schwer aufzugeben zu sein. Jedes faschistische System zielt auf die reproduktiven Rechte von Frauen. Besonders perfide haben wir das bei den Nationalsozialisten erlebt, die darüber bestimmt haben, wer abtreiben und wer eine Schwangerschaft austragen muss. Das Verbot von Abtreibung hat die Anzahl von Abtreibungen hingegen nie verringert, aber Frauen massiv in ihrer Gesundheit gefährdet.

STANDARD: Nicht nur militante AbtreibungsgegnerInnen erstarken, auch feministische Bewegungen rund um den Globus widmen sich dem Kampf für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen. Was motiviert Sie trotz all des Gegenwinds weiterzumachen?

Hänel: Dass ich die Frauen täglich in meiner Praxis erlebe und dann wieder weiß, wofür ich das mache. Neulich hatte ich eine Frau hier, eine Mutter von drei Kindern, die von ihrer Frauenärztin rausgeschmissen wurde, weil sie den Wunsch nach einem Abbruch äußerte. Sie weigerte sich sogar, sie zu untersuchen. Das kann man doch mit einer erwachsenen Frau nicht machen. (Brigitte Theißl, 23.12.2018)