Abbildung eines aztekischen Priesters, der sich die Haut eines geopferten Sklaven übergestülpt hat, um das Frühlingsfest Tlacaxipehualiztli zu begehen.

Illustration von Juan de Tovar um 1585, Brown University

Tlacaxipehualiztli klingt für unsere Ohren erst einmal recht lustig. Auf Nahuatl, der Sprache der für ihre Menschenopfer berüchtigten Azteken, bezeichnet das Wort eines der wichtigsten Feste im vorspanischen Mexiko. Dabei ging es selbst für aztekische Verhältnisse blutig ernst und grauenhaft zu. Wörtlich übersetzt bedeutet Tlacaxipehualiztli nämlich: "die Häutung der Männer" oder "die Haut der Enthäuteten überstülpen".

Gefeiert wurde das Fest im Frühling vor Beginn der Regenzeit anlässlich der Tagundnachtgleiche, um Xipe Tótec zu huldigen, dem aztekischen Gott der aufkeimenden Saat und des Krieges, sowie dem Schutzgott der Goldschmiede und des fünfzehnten Tages im Monat. Xipe Tótec wiederum bedeutet nichts anderes als "unser Herr, der Gehäutete", da sich dieser Gott gemäß der aztekischen Mythologie immer wieder seiner Haut entledigt haben soll, um die Menschheit zu ernähren. Entsprechend sehen auch die Darstellungen von Xipe Tótec aus, der eine zusätzliche Haut trägt.

Aztekische Darstellung des Fruchtbarkeits- und Kriegsgottes Xipe Tótec. Man beachte die zusätzliche Haut, die über dem rot gefärbten Körper getragen wird.
Foto: Codex Borbonicus

Er wären nicht die Azteken, wenn es bei den symbolischen Darstellungen geblieben wäre. Sie meinten es mit den Häutungen wörtlich, folgt man etwa den Beschreibungen des Franziskaners Bernardino de Sahagún in seiner zwölfbändigen "Allgemeinen Geschichte der Verhältnisse in Neuspanien" aus dem Jahr 1569.

Opferungen als Höhepunkt

Bereits 40 Tage vor der Tagundnachtgleiche, dem Höhepunkt dieses blutigen Frühlingsopfers, wurden gemäß de Sahagún in der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlan (heute Mexiko-Stadt) etliche Sklaven als Gott Xipe Tótec verkleidet. Nachdem die Azteken diese auserwählten Sklaven einige Zeit als Inkarnation der Gottheit verehrt hatten, wurden sie dann geopfert.

Das vollzog sich am Opferstein auf der Hauptpyramide von Tenochtitlan laut den Schilderungen de Sahagúns in etwa so: "Die Priester legen sie mit der Brust nach oben und schneiden ihnen die Brust mit einem dicken, breiten Feuersteinmesser auf. Danach rollt man sie herab und stürzt sie die Stufen des Tempels hinab. Sie klappern, sie kugeln gleich Kürbissen, bis sie unter auf der Vorterrasse ankommen."

Blut rinnt wie Regen

Es gab noch einige weitere spezielle Arten, um Xipe Tótec rituell zu huldigen: So wurden die Gefangenen in gladiatorenartigen Kämpfen oder mit Pfeilen getötet, nachdem sie an einen Holzrahmen gespannt worden waren. Das herabtropfende Blut sollte laut Azteken-Mythologie für die notwendigen Regenfälle sorgen.

Damit war das Grauen aber noch lange nicht zu Ende, sondern begann erst so richtig. Auf einem zweiten Opferstein wurden die Geopferten dann fein säuberlich gehäutet – und zwar so, dass die Haut in einem Stück vom Leichnam abgezogen wurde.

Einem getöteten Opfer wird die Haut zur weiteren Verwendung abgezogen.
Illustration: Codex Florentinus

Denn im nächsten Schritt schlüpften die Opferpriester in die blutigen Körperhüllen, die zusätzlich noch mit Federn und Gold geschmückt wurden, und trugen sie während des 20 Tage lang dauernden Fests – bis sie "wie tote Hunde stanken", wie es in einer anderen Chronik heißt.

Fehlende archäologische Evidenz

Für diese Beschreibungen gab es bisher jedoch keine archäologische Evidenz. Obwohl Xipe Tótec einer der wichtigsten Götter der vorspanischen Zeit war und seine Bedeutung für die Fruchtbarkeit, die Vegetationszyklen und den Krieg auch von anderen Kulturen im präkolumbischen Mittelamerika geteilt wurde, hatte man bisher nie einen Tempel gefunden, der mit dem Kult verbunden war.

Nun dürfte mexikanischen Forschern vom staatlichen Institut für Anthropologie und Geschichte Mexikos (Instituto Nacional de Arqueología e Historia, INAH) genau diese Entdeckung gelungen sein – und zwar nicht in Mexiko-Stadt bzw. Tenochtitlan, sondern in der Ruinenstadt Ndachjian-Tehuacán im zentralmexikanischen Bundesstaat Puebla.

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Die Ruinenstadt Ndachjian-Tehuacán in Zentralmexiko. Hier stießen Archäologen kürzlich auf Spuren einer lange gesuchten Kultstätte.
Foto: AP/Meliton Tapia Davila/INAH

Dort stieß das Team um Grabungsleiterin Noemí Castillo Tejero auf zwei Opferaltäre, zwei rund 70 Zentimeter hohe Skulpturen gehäuteter Schädel und einen steinernen Torso, der den dermatologisch eigenwilligen Fruchtbarkeitsgott darstellen soll. Die Kultstätte selbst ist ungefähr zwölf Meter lang und 3,5 Meter hoch und liegt laut den Forschern im Untergeschoß der noch nicht vollständig freigelegten Tempelpyramide.

Einer der beiden Pac-Man-artigen Steinköpfe, die das Haupt eines gehäuteten Opfers darstellen. Rechts dahinter der Torso, der vermutlich die Gottheit Xipe Tótec verkörpert. Charakteristisch ist die wegen der Häutung seltsam wegstehende zweite Hand.
Foto: Héctor Montaño, INAH

Die Entdeckung in Ndachjian-Tehuacán kommt etwas überraschend, denn diese Siedlung des sogenannten Popoloca-Volkes entstand etwa um das Jahr 900 unserer Zeitrechnung, also lange bevor die Azteken am Ende des 14. Jahrhunderts darangingen, ihr Imperium zu errichten, das 1521 mit der Eroberung durch Hernán Cortés für die spanische Krone zu Ende ging.

Der entdeckte Tempel, dessen Grundmauern nun freigelegt wurden, soll aus einer späteren Zeit stammen und zwischen 1260 und etwa 1450 für rituelle Opferungen benutzt worden sein. Das ist aber unmittelbar vor jener Zeit, in der Aztekenkönig Moctezuma I. (spanisch: Montezuma) die Region eroberte und die Bewohner vertrieb.

Kulturübergreifende Rituale

Das wiederum bestätigt zum einen, dass der blutige Kult um den Fruchtbarkeitsgott bereits vor den Azteken von anderen Völkern im heutigen Mexiko gepflegt wurde und schon von diesen mit Menschenblut gefeiert wurde. Zum anderen legt der Fund nahe, dass die Azteken über ein kosmopolitisches Reich herrschten, das andere Kulturen, Sprachen und ethnische Gruppen integrierte.

Doch wie kann man sich sicher sein, dass es sich bei den gefundenen Artefakten tatsächlich um die Spuren des ersten gefundenen Tempels für Xipe Tótec handelt? Die Archäologin Susan Gillespie (University of Florida), die nicht an den Grabungen beteiligt war, hält die Schädel aus Stein für weniger überzeugend als den steinernen Torso, bei dem eine Hand absteht, um die übergestülpte Haut zu symbolisieren.

Endlager für Menschenhäute

Laut den aztekischen Quellen muss der Tempel nicht der Ort des Opfers gewesen sein, so Gillespie. Es könnte auch die Stätte gewesen sein, an der die getragenen Häute gelagert wurden, was den Ort freilich nur noch heiliger machen würde. Genau dafür haben die mexikanischen Archäologen Hinweise gefunden: Die Pac-Man-artigen Steinköpfe standen über Hohlräumen, in denen vermutlich die getragenen Häute endgelagert wurden – und sollten so verhindern, dass deren bestialischer Gestank nach außen drang. (Klaus Taschwer, 5.1.2019)