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"Ich schreibe immer mit Gitarre im Hinterkopf", hat Leonard Cohen zu Lebzeiten gesagt. Seine "Scraps", seine Notizen und Gedichte, sind nun in Buchform nachzulesen, parallel auf Englisch und Deutsch.

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Bitte den Regenbogen, dass er sofort / den Schatz liefern soll, nicht später, nicht bald" – Leonard Cohen erzählt von einem, der alles will vom Leben, alle Freuden, aber auch alle Leiden, "das ganze, verdammte Kreuz, nicht nur einen Splitter". Die Gedichtzeilen entstammen den Notizbüchern, in die Cohen von seiner Teenagerzeit an bis zum letzten Tag seines Lebens nahezu täglich schrieb. "Scraps", was so viel bedeutet wie Fetzen, nannte Cohen diese Aufzeichnungen. Tatsächlich handelt es sich um das Material, aus dem er seine Gedichte und Lieder schuf. Da finden sich kurz hingeworfene Zeilen, Kryptisches und Verworrenes ebenso wie Prosastücke und lange balladenartige Texte, die sprunghaft unterschiedliche Themen behandeln.

Wie Cohens Sohn Adam mitteilt, habe sein Vater überall solche Notizbücher gelagert, in seinen Jackentaschen, in Schubladen und sogar im Kühlschrank. In den frühen 1990er-Jahren seien ganze Schränke mit Schachteln voller Notizbücher gefüllt gewesen. Sie bezeugen Cohens lebenslange Hingabe an das Schreiben, das ihm wichtiger war als alles andere. "Das Schreiben war sein Lebenszweck", ist Adam Cohen überzeugt. "Das war das Feuer, das er hegte, die bedeutendste Flamme, die er schürte. Sie ist niemals erloschen." Der Band Die Flamme | The Flame gewährt zum ersten Mal Einblick in diese Texte. Wie der Titel, so ist auch der Inhalt zweisprachig, sodass man sich den Klang des Originals vergegenwärtigen kann. Der Band erschien posthum. Cohen starb am 7. November 2016 an Leukämie. An der Auswahl der Texte wirkte er noch mit. So nahmen die Herausgeber auf seinen ausdrücklichen Wunsch seine Dankesrede für den Prinz-von-Asturien-Preis auf.

Cohen erinnert darin an den andalusischen Dichter Federico García Lorca, der für ihn erste Inspiration und Anstoß zum Dichten gewesen sei und ihm die Erlaubnis gegeben habe, "eine Stimme auszumachen; und das bedeutet: ein Selbst auszumachen, ein Selbst, das nicht feststand, sondern ein Selbst, das um seine eigene Existenz kämpfte". Im Alter von 15 Jahren war Cohen auf García Lorcas Gedichte gestoßen. Sie berührten ihn zutiefst und seien für ihn "die erste echte Literatur" gewesen. Er habe diese Welt nie mehr verlassen, bekannte er später. Tatsächlich verbindet ihn vieles mit García Lorca. So hegten beide den Wunsch, ihr Innerstes zu geben und gleichzeitig das dichterische Geheimnis zu wahren. Wie Adam Cohen einmal erzählte, habe sein Vater in völliger Einsamkeit geschrieben und den Entstehungsprozess seiner Texte verborgen gehalten, um ihn nicht zu entzaubern. Auch teilte Cohen mit García Lorca die Liebe zur Einfachheit, den schwermütigen Ton, das Pathos des Schmerzes und den Glauben an eine Transzendenz.

Hommage an Morente

1996 brachte der spanische Sänger und Flamencogitarrist Enrique Morente das Grenzen sprengende und mehrfach neu aufgelegte Album Omega heraus, auf dem er mit der Rockband Legartija Nick Musik zu Texten von García Lorca und Cohen spielte. Cohen erinnert mit schwärmerischen Worten an das Gitarrenspiel und die "körperlos gewordene große Stimme" Morentes, der 2010 verstarb. Hommage an Morente gehört zu jenen 63 Gedichten, die den Band eröffnen und die Cohen aus seinen unveröffentlichten Texten auswählte. Sie enthalten Liebesgedichte über Abschied, Trennung und Vergebung sowie Gedichte, die Kindheitserinnerungen aufleben lassen, Cohens spirituelle Suche begleiten und Eindrücke von seinen Konzertauftritten wiedergeben. Ich denke immer an ein Lied malt die gemeinsame Arbeit mit der Sängerin Anjani Thomas aus. Sie nahm mit Cohens Texten das Album Blue Alert auf. Und Cohen träumt von einem Lied, das von ihrer beider Leben handelt und zu dem er den Text und sie die Melodie schreiben wird.

In dem Gedicht Gäbe es keine Gemälde schreibt Cohen von den Menschen, die für ihn Modell saßen, den Gegenständen in seinem Zimmer, die er abbildete und den Zeichnungen, die er von sich anfertigte: "Von einem Spiegel auf meinem Schreibtisch / In den ganz frühen Morgenstunden / Zeichnete ich / Hunderte Selbstporträts ab / Die mich an das eine oder andere erinnerten".

In dem Lyrikband Buch der Sehnsüchte wurden einige dieser Zeichnungen 2006 erstmals abgedruckt. Ein Jahr darauf stellte Cohen sie in der Drabinsky Gallery in Toronto aus. Es handelt sich um karikaturhafte Porträts. Sie lenken den Blick nach innen, erkunden die seelische Befindlichkeit. Das unterstreichen auch die kurzen Texte daneben. "True nature is what you got", steht neben einem skizzenhaft hingeworfenen Porträt. "The importance of a previous existence as a fish has been exaggerated", vermerkt Cohen neben einem hingekritzelten Porträt. Und ein tief enttäuschtes Gesicht mit weit herabgezogenen Mundwinkeln wird von den ironischen Zeilen flankiert: "this is no joke / that's what makes it funny / it is the very essence of Canadian humour".

Auch Autobiografisches findet sich in den Gedichten. Doch erreicht Cohen einen vom persönlichen Erleben losgelösten Ausdruck. Diese Wahrhaftigkeit zeichnet seine Gedichte aus. Sie berühren, weil sie von den inneren Konflikten des Lebens erzählen. In ihnen offenbaren sich die verschlungenen Beziehungen zwischen dem Verstand, den Gefühlen und der Wirklichkeit. Cohen verdichtet die Gefühle zu Bildern suggestiver Kraft. Da gibt es das kurze Gedicht Brandungssog, und mit diesem Titel ist bereits die außerordentliche Dynamik des Lebens erfasst. "Eines Nachts brach ich auf", hebt es an, und schon reißt es ihn mit sich fort, und er findet sich wieder, an ein Ufer verschlagen, "mit einem Kind in den Armen". Beobachtungen, Gedanken, Gefühle – alles wird Cohen zum Gedicht.

Gedichte voller Musik

Bewegend ist seine Auseinandersetzung mit dem Alter. Heute stand meine Gitarre auf betitelt er ein Gedicht, in dem er beschreibt, wie seine Gitarre ihm in die Arme springt, auf dass er etwas Spanisches spiele, in dem "stolze Tänzer mit den Füßen / stampfen und lauthals gegen dieses Schicksal / schreien können, das uns niederzwingt / unter die blutige Dornenkrone aus Alter / Krankheit und Verfolgungswahn". Kritiker bezeichneten Cohen in den 1960er-Jahren als den womöglich wichtigsten kanadischen Lyriker seit 1950. Die später wiederholt gestellte Frage, ob Cohen Dichter oder Musiker gewesen sei, beantwortet sich in dem Band von selbst. Die Gedichte sind so voller Musik, dass von Anfang an auch der Weg zum Lied angelegt ist. Cohen hatte in der Lyrik stets Musik wahrgenommen. Er wollte nie zwischen Gedicht und Lied unterscheiden. "Ich schreibe immer mit Gitarren im Hinterkopf", betonte er einmal, "selbst die Romane." So war es nur eine Frage der Zeit, bis beides zusammenfand. 1965 griff Cohen bei einer Lesung erstmals zur Gitarre. Für ihn war es ein Weg, "aus Trümmern Schönheit zu zaubern". Der Mittelteil des Bandes vereinigt Gedichte, die die Grundlage für Cohens letzte vier Alben bildeten, das von ihm produzierte Blue Alert, Old Ideas, Popular Problems und You Want It Darker.

Der Zusammenprall von Liebe und Tod, an dem die Texte sich entzünden, zeigt Cohen einmal mehr als "schwarzen Romantiker", der von Verzweiflung, Kummer und Schmerz zu erzählen weiß. Und sie belegen, wie großartig er seine aus García Lorca herausgelesene Vorgabe erfüllt: Wenn man "die große, unausweichliche Niederlage, die uns alle erwartet", erfüllen wolle, müsse dies "in den streng gesetzten Grenzen von Würde und Schönheit" geschehen. Mit Hab Dank für den Tanz wendet er den Blick zurück: "Es war die Hölle und toll, es war groß / Es hat Spaß gemacht". In einer Art Gebet Geboren in Ketten erinnert er an seine jüdische Abstammung und lässt sein Leben Revue passieren, bis "Nur die Dunkelheit bleibt / Um die Sehnsucht zu fassen". Gefasst nimmt er Abschied vom Leben. "I'm ready, my Lord" lautet der Refrain des Titelsongs seines letzten Albums, das im Jahr seines Todes erschien. In einem melodiösen Sprechgesang bekundet Cohen mit heiserer Stimme seine Bereitschaft zu sterben. Als Gedicht ist der Text nun nachzulesen: "You want it darker / We kill the flame". (Ruth Renée Reif, Album, 5.1.2019)