Zeit seines kurzen Lebens blieb er der Bub aus der Gosse: Als Sohn eines Taxifahrers aus dem Londoner East End konnte und wollte sich Alexander McQueen nie in die elitäre Modewelt einfügen.

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Es war seine letzte Modeschau – und in den Augen vieler eine seiner besten. Noch einmal brachte Alexander McQueen, den in seinem persönlichen Umfeld alle Lee nannten, eine Welt auf den Laufsteg, die genauso schillerte wie schockte: die Models ätherische Wesen mit kunstvoll frisierten Hörnern auf dem Kopf, am mageren Leib Schlangen- oder Fischschuppenkleider, deren Formen an Gebäude erinnerten, die wohl erst in ferner Zukunft gebaut werden würden.

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Zu Ikonen wurden aber die monströsen, elegant geschwungenen Kothurnen an ihren Füßen: Wie Zwitterwesen aus der Antike und Stanley Kubricks futuristischen Visionen tauchten die blassen Wesen aus einer blubbernden Unterwasserwelt auf.

"Platon's Atlantis" nannte der Londoner Modemacher seine Frühjahrskollektion 2010, und noch einmal vereinte er all das, wofür er in der Modewelt als Genie und außerhalb davon als kleiner Popstar gehandelt wurde: das Sinnliche und Schmutzige, das Geheimnisvolle und Grenzwertige, das Mechanische und Medienüberschreitende.

Eine Kreation von Alexander McQueen

McQueen, der Bub aus dem Londoner East End, kämpfte zu dieser Zeit wie noch nie in seinem Leben mit seinen inneren Dämonen. Durch das viele Kokain war der einstige Bummel zu einer Knochengestalt abgemagert, der Wahnsinnsrhythmus der Modewelt mit bis zu 14 Kollektionen im Jahr, schnürte ihm die Luft zum Atmen ab. Wie ein Gott aus der Unterwelt, vertraute er einem Freund an, wollte er nach der Modeschau aus dem Laufsteg emporfahren und sich eine Pistole in den Mund halten und abdrücken. Das hat Lee McQueen nicht getan.

Tod begründete Mythos

Einige Monate später, am Tag vor dem Begräbnis seiner geliebten Mutter, erhängte sich der gerade einmal 40-Jährige in seinem Haus in London – und begründete damit einen Mythos, der in den gerade einmal neun Jahren seit seinem Tod durch zahlreiche Bücher, Ausstellungen und Filme beharrlich gefüttert wurde. Über eine Million Menschen sahen allein die Ausstellung Savage Beauty, die vom Metropolitan Museum in New York ins Victoria & Albert in London wanderte. Wer zuvor noch nie von Alexander McQueen gehört hatte, der tat es mit einiger Sicherheit nach seinem Ableben.

An der Geschichte des übergewichtigen, pickeligen Sohns eines Londoner Taxifahrers, eines Schulabbrechers und Modehooligans, lässt sich nämlich nicht nur die Geschichte eines überhitzten Modesystems in Zeiten konkurrierender Luxuskonglomerate erzählen, sondern auch der Aufstieg und Fall eines Ausnahmekönners.

McQueen gemeinsam mit seiner Förderin Isabella Blow

Das Wort Genie wird mittlerweile sparsam, in der Modewelt aber nach wie vor inflationär verwendet. So eng wie hier ist Kreativität in keinem anderen Bereich mit dem Kommerz verbunden. Auch das Modehaus McQueen (es wird mittlerweile von der ehemaligen Mitarbeiterin Sarah Burton geführt) muss durch gutes Marketing am Leben erhalten werden.

Alexander McQueen, die Dokumentation der britischen Regisseure Ian Bonhôte und Peter Ettedgui wird der Marke nicht schaden. Zwar fügen sie den Erzählungen über McQueen keine bemerkenswerten neuen hinzu, erstmals sieht man aber Bildmaterial, das den Menschen hinter den Kollektionen klarer hervortreten lässt.

Mode zeigt den Abgrund

Leben und Werk, und das klingt jetzt ein bisschen wie ein Klischee, waren bei McQueen untrennbar miteinander verbunden. Ihre Beziehung hätte vier Modesaisonen gehalten, erzählt ein ehemaliger Liebhaber, und jede einzelne Kollektion wäre aufs Engste mit der jeweiligen Lebenssituation verbunden gewesen.

Als McQueen an Angstzuständen litt, entstand die legendäre "Voss"-Kollektion, deren Ende ein liegendes, vollschlankes Fetischmodel an einem Sauerstoffgerät zeigte, das von Motten umschwirrt wurde. Als die mütterliche Freundin, die modeverrückte Isabella Blow starb, setzte ihr McQueen gemeinsam mit dem Hutmacher Philip Treacy mit "La Dame Bleue" ein Denkmal.

Gemeinsam mit seiner Mutter
Foto: Thimfilm

Diese Durchdringung von Mode durch Lebensenergie und Lebenszweifel ist der wohl bestimmendste Zug der Arbeiten von Lee McQueen. Wie bei kaum jemand anderem war seine Mode mit Emotionalität und Theatralik aufgeladen. McQueen erzählte Geschichten, die mal schön und ästhetisch, aber viel öfters aufrüttelnd und verstörend waren.

Als er sich anfangs als Designer von Givenchy der Geschichte des französischen Traditionshauses beugte und eine konventionell-elegante Kollektion zeigte, war er selbst es, der damit am unglücklichsten war. Ganz bei sich – und dafür legt diese Dokumentation eindrucksvoll Zeugnis ab – war Lee McQueen nur, wenn er sein Innerstes nach außen stülpte. Das Mittel, das er dafür zur Verfügung hatte, war die Mode. Ab 11. 1. (Stephan Hilpold, 7.1.2019)