Der serbische Autor Bora Ćosić.

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Bora Ćosić, "Im Zustand stiller Auflösung". Roman. Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. € 18,50 / 130 Seiten. Schöffling & Co, Frankfurt 2018.

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Eine totgerittene Sentenz der Weltliteratur stammt von Leo Tolstoi und eröffnet dessen Anna Karenina. In dem berühmten ersten Satz des Buches heißt es, dass alle glücklichen Familien einander ähneln. Bloß die unglücklichen besäßen Anspruch darauf, einzigartig zu sein.

Tolstois Einsicht ist niederschmetternd, zugleich eignet ihr aber auch ein tückischer Trost. Der kränkende Gehalt jedes Unglücks wird durch die Besonderheit seines Zustandekommens geadelt. Endlich kann man Mitmenschen, denen man ohnedies nicht gewogen ist, wenigstens durch die eigene Jämmerlichkeit überragen.

Serbischer Weltliterat

Der serbische Weltliterat Bora Ćosić zieht einen noch weitaus radikaleren Schluss. In seinem brillanten kleinen, in jede postmoderne Hosentasche passenden Roman Im Zustand stiller Auflösung bricht er den Anna-Karenina-Satz auf dessen unumgängliche Substanz herunter. Eine Dummheit, heißt es, gleiche der anderen. Personen, die nicht dumm sind, sollten sich "zumindest einen Millimeter voneinander unterscheiden". Ćosić – selbst ein literarischer Riese – schneidert sich ein Zwergenkostüm, vielleicht um besser gesehen zu werden. Er reist als Ich-Erzähler mit Frau und Freunden in die Bretagne, nur um den Spuren Marcel Prousts zu folgen, die dieser als Sommerfrischler hinterlassen hat. Ein Pech, dass der historische Proust nicht nach Tréboul (Bretagne), sondern in das nicht weit entfernte Cabourg (Normandie) gereist ist.

Ein weiteres Unglück besteht darin, dass unser Held in seiner Rolle als nörgelnder Autor von einer hartnäckigen Schreibhemmung geplagt wird. Von welcher er meisterhaft beredt berichtet. Und die ihn dazu verleitet, über eine Welt, die ihm, dem Gast aus Südeuropa, nur noch als Abklatsch, als Surrogat ihrer selbst begegnet, den Stab zu brechen.

Schriftstellerische Impotenz

Ćosić (86) inszeniert das Schauspiel schriftstellerischer Impotenz, indem er die Sinnlosigkeit von Leben und Alter in den vielfachen Sinn der Schrift übersetzt. Immerzu droht der Erzähler, das Gleichgewicht zu verlieren. Tatsächlich vermerkt Ćosić in einem Nachwort, ihn, die reale Person, hätte solch ein Augenblick der physischen Schwäche 1989 angewandelt. 1989 fiel die Berliner Mauer. In Jugoslawien wurden unmerklich die Weichen für die Balkankriege gestellt, die den 1990ern ihr Gepräge aufdrückten.

Ćosićs Flucht in die Bretagne wurde prompt zum Vorwurf eines kleinen Romans. Der erschien 1991 in serbischer Sprache und bildet nun wiederum die Grundlage von Im Zustand stiller Auflösung. Wie Ćosić weiter berichtet, saß der Verlag für die Erstausgabe anno 1991 in Sarajevo. Die serbische Soldateska hätte damals die unzähligen Bücher zusammengehäufelt, die in der für sie "falschen" Schrift gedruckt waren, lateinisch statt kyrillisch, und daher vernichtet werden mussten.

Treibstoff für Gedanken

Die damals verwendete Methode der Büchervernichtung sei neu gewesen in den Annalen der Barbarei. Ćosić: "Sie verbrannten die Bücher nicht, sie schütteten Treibstoff darüber, der das Material auflöste und einen Haufen Gedrucktes peu à peu in eine teigige Masse verwandelte. Was bewies, dass Bücher plus menschlicher Verstand unser täglich Brot sind."

Zweifel an der Authentizität der Gräuel wischt Ćosić beiseite. Für ihn scheint allein die Möglichkeit, dass solche Schandtaten passiert sein könnten, Grund genug gewesen zu sein, das Buch neu zu schreiben. Als müsse die Kulturfähigkeit der Gattung Mensch neu in Betracht gezogen werden.

Womit nun ein disharmonischer Roman auf Deutsch vorliegt. Dem widerfährt am schmächtigen Leib, was sein Titel erzählt: Er zerfällt sukzessive in seine Bestandteile und lässt auch seine (ohnehin bloß hastig entworfenen) Figuren hinter sich. Übrig bleibt ein bitterböser Autor, der (be)schreibt, wie er nicht schreibt. Und sein Buch in einem Fanal hochkomischer Übertreibungskunst in die Luft jagt. Denn: "Was heißt Kranksein, wenn Menschsein an sich schon krankhaft ist?" (Ronald Pohl, 5.1.2019)