Länder, die diese Form des Nationalismus annehmen, schüren unnötige Konflikte und untergraben die Möglichkeit einer länderübergreifenden Zusammenarbeit.

Cartoon: Michael Murschetz

Die "Bedrohung" durch den Nationalismus scheint allgegenwärtig zu sein. Die Ideologie, die meist abwertend beschrieben wird, ist heute gleichbedeutend mit Fremdenfeindlichkeit, Populismus, Autoritarismus und fehlendem Liberalismus. Der französische Präsident Emmanuel Macron gab jüngst übertriebenem Nationalismus die Schuld, die Brände des Ersten Weltkriegs geschürt zu haben, und warnte davor, dass "alte Dämonen" mit einer Rückkehr zu "Chaos und Tod" drohten.

Bei einer solchen Rhetorik kann man leicht davon ausgehen, dass der Nationalismus in all seinen Formen in den Mülleimer der Geschichte entsorgt werden sollte. Selbst Intellektuelle haben die Fähigkeit verloren, eine nuancierte Debatte über Tugenden und Laster des Nationalismus zu führen. Aber ein kürzlich erschienenes Buch des israelischen Historikers Yuval Noah Harari bietet die Möglichkeit, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren.

In "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" stellt Harari eine wichtige Frage: Kann der Nationalismus die Probleme einer globalisierten Welt angehen, "oder ist er ein eskapistischer Genuss, der die Menschheit und die gesamte Biosphäre zur Katastrophe bringen kann"? Hararis Antwort ist nicht überraschend. Indem er seine Argumentation durch eine Litanei von ökologischen, nuklearen und technologischen Herausforderungen führt, kommt er zu dem Schluss, dass Nationalismus nur zu Konflikten und Katastrophen führen kann.

Aber es gibt noch eine andere Art, über den Nationalismus nachzudenken: im Kontext von Herausforderungen, die auf lokaler und nationaler Ebene angegangen werden müssen – wie wirtschaftliche Ungleichheit, politische Instabilität, soziale Schismen und schwache Regierungsführung. Hätte Harari mit einer engeren Liste von Problemen begonnen, sein Urteil über den Nationalismus hätte ganz anders ausfallen können.

Sozialer Zusammenhalt

Der Ökonom Thomas Piketty hat beobachtet, dass der Nationalstaat die Entwicklung des Sozialstaats ermöglicht hat. Für jeden, der – wie ich – soziale, wirtschaftliche und politische Problemlösungen für dringend notwendig hält, ist es sinnvoll, dass die nationale Stimmung wiederbelebt wird, um den sozialen Zusammenhalt im Dienste eines Sozialstaats zu sichern.

Aber selbst wenn wir Hararis Liste akzeptieren, sind seine Schlussfolgerungen immer noch voreilig. Während es zum Beispiel für einen politischen Führer, der sich einer ökologischen oder nuklearen Katastrophe gegenübersieht, verlockend wäre, weniger Aufmerksamkeit auf innenpolitische soziale Fragen zu richten, hängt eine effektive globale Zusammenarbeit von starken Einzelstaaten ab. Dies gilt insbesondere jetzt, da die Wirksamkeit der globalen Institutionen noch nie stärker angezweifelt wurde.

Harari hat in einem Punkt recht: Kein Land kann sich allein den globalen Herausforderungen stellen. Aber es wäre falsch, daraus zu schließen, dass einzelne Staaten redundant sind. Die Tatsache, dass die Länder selbst nicht stark genug sind, um einen globalen Unterschied auszumachen, ist kein Beweis dafür, dass es andere politische Einheiten gibt, die sie ersetzen können.

Um fair zu sein, muss man sagen, dass Harari die Rolle des Nationalismus in der Regierungsführung anerkennt. So schreibt er beispielsweise, es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass eine Welt ohne Nationalismus automatisch friedlich und liberal wäre. Im Gegenteil, eine solche Welt würde wahrscheinlich in ein "Stammeschaos" abtauchen. Vergleicht man stabile und erfolgreiche Demokratien wie Schweden, Deutschland und die Schweiz, die "ein starkes Gefühl der Nationalität haben", mit "Ländern ohne starke nationale Bindungen", darunter Afghanistan, Somalia und die Demokratische Republik Kongo, kommt Harari zu dem Schluss, dass Nationalismus ein notwendiger Bestandteil der politischen Stabilität ist. Daraus lässt sich schließen, dass es zu gefährlich ist, den Nationalismus aufzugeben.

Richtiges Gleichgewicht

Wie jede politische Ideologie hat auch der Nationalismus viele Gesichter, einige davon sind hässlicher als andere. Ein Paradebeispiel ist der brachiale Anti-Globalismus. Länder, die diese Form des Nationalismus annehmen, schüren unnötige Konflikte und untergraben die Möglichkeit einer länderübergreifenden Zusammenarbeit. Aber andere Formen des Nationalismus, die das lokale und das globale Gleichgewicht besser ausgleichen, sind vorteilhaft und einer Bestätigung wert. Der Nationalismus kann nicht nur dazu beitragen, gut funktionierende Staaten zu stärken, sondern er kann auch als Instrument zur Förderung der Solidarität bei den Bemühungen der Regierung dienen, lokalisierte soziale Herausforderungen anzugehen, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten zu bekämpfen und sich um zurückgelassene soziale Gruppen zu kümmern. Daher ist es besser, den Nationalismus nicht aufzugeben, sondern seine wohltuenden Eigenschaften für die Wiederherstellung des Sozialstaats zu nutzen.

Natürlich haben Kritiker Recht, wenn sie Chauvinismus und Hass anprangern. Aber den Nationalismus abzulehnen, ist zu einfach. Es liegt an den Intellektuellen, dies zu erkennen und die Argumente zu formulieren, die den Regierungen helfen können, das richtige Gleichgewicht zwischen nationalen, regionalen und globalen Verpflichtungen zu finden.(Yael (Yuli) Tamir, Übersetzung: Eva Göllner, Copyright: Project Syndicate, 4.1.2019)