Mit federnden Schritten geht Devoné Kitchen nach vorn, um auf der Anklagebank Platz zu nehmen, so gut gelaunt, wie man es selten erlebt in einem Gerichtssaal. "Ich höre, es gibt Neuigkeiten", beginnt Richter John M. Durkin die Verhandlung. "Stimmt, man hat mich zur Managerin befördert", antwortet die junge Frau. Sie arbeite in einer Klinik, wo ihr Fälle anvertraut würden, sie trage volle Verantwortung dafür, eben wie eine Managerin. "Ich bin stolz auf Sie", sagt Durkin, nunmehr fast väterlich im Ton. "Gut gemacht. Bleiben Sie dran."

John Durkin ist Jurist, kein Sozialarbeiter. Er trägt eine schwarze Robe, er kann Urteile fällen, jeder der zwanzig Geladenen, die er nacheinander nach vorn bittet, muss damit rechnen, ins Gefängnis geschickt zu werden. Es ist also alles andere als eine Therapiestunde, die da im Saal Nummer vier des Mahoning County Courthouse in Youngstown über die Bühne geht – unter einem Riesengemälde, das stolze Indianerhäuptlinge nach einem Sieg über britische Soldaten 1775 zeigt. Nur, wird Durkin später in seinem Büro sagen, heile man eine Krankheit ja nicht, indem man die Kranken einsperre. "Du machst einen besseren Job, wenn du die Krankheit behandelst."

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Polizeieinsatz in Ohio gegen Drogenmissbrauch: Die aufgegriffenen Süchtigen und Dealer werden immer jünger.
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Aus diesem Grund lässt Durkin den "Drug Court" tagen, das Drogengericht, das eben doch zugleich eine Art Therapiekreis ist. Wer hier erscheint, wäre normalerweise hinter Gitter gewandert. Ohio, der Bundesstaat, in dem Youngstown liegt, ist da längst nicht so liberal wie Colorado oder Kalifornien, wo Marihuana mittlerweile legal verkauft werden kann. Die Alternative zum Knast besteht darin, sich bei Durkin zu einem einjährigen Programm zu verpflichten, das Drogenentzug ebenso einschließt wie die intensive Suche nach einem Arbeitsplatz. Wer sich darauf einlässt, hat jeden Mittwoch vor dem Richter zu erscheinen und Bericht zu erstatten. Versäumt man den Termin, hat das Konsequenzen. Automatisch drohen ein paar Tage Haft, bis in der Woche darauf die nächste Verhandlung ansteht.

Sein Drug Court, das weiß Durkin, passt nicht so recht zu dem Bild, das man im Ausland über die US-Justiz hat. Er weiß, dass er gegen den Strich der Vorstellung bürstet, wonach amerikanische Richter Delinquenten mit drakonischer Härte bestrafen. Spricht man ihn auf das Hardliner-Klischee an, lächelt er. Nachsichtig, wie es scheint. Als wolle er sagen, dass man in Youngstown, Ohio, nicht hinterm Mond lebe. Typisch amerikanisch, wirft er ein, sei eben auch ein ausgeprägter Pragmatismus. "Wenn etwas nicht funktioniert, musst du es ändern. Und das mit der eisernen Faust hat nicht funktioniert."

Allein über die Runden kommen

An diesem Morgen macht Rachel den Anfang im Saal Nummer vier, eine Mutter von zwei kleinen Kindern, für die sie keine Betreuung gefunden hat. Der Vater der beiden ist tot, dabei hatte es eine Zeitlang so ausgesehen, als gehe es aufwärts mit ihm. Im Dienst einer Kirche stehend, begann er sich um Obdachlose zu kümmern, nachdem er die von Durkin verordneten Kurse scheinbar mühelos, scheinbar erfolgreich absolviert hatte. Irgendwann traf er alte Freunde, begann zu trinken und Heroin zu spritzen. Man habe den Mann mit einer Nadel im Arm gefunden, mit dem Gesicht nach unten auf einer Couch, erzählt Amy Klumpp, Durkins rechte Hand, die Koordinatorin des Hilfsprogramms. Seit ein paar Monaten muss Rachel sehen, wie sie mit den beiden Kleinen allein über die Runden kommt.

Ryan erzählt stolz, dass ihm das Geschäft, das ihn eingestellt hat, inzwischen die Tageseinnahmen anvertraut, bisweilen mehrere Tausend Dollar in Scheinen, die er zur Bank bringt. In seinem Chevy hatte er sich einst Heroin gespritzt, gestreckt mit Fentanyl, einem künstlich hergestellten Opioid, das etwa 20-mal stärker ist als Heroin. Mit Naloxon, einem wahren Wundermittel, das die Folgen einer Überdosis binnen Minuten stoppen kann, holten ihn Rettungskräfte zurück ins Leben. Weil damals auch Kinder im Auto saßen, wurde die Anklage verschärft. Es war ein Schock, der Ryan bewog, sich an Durkin zu wenden.

Bei Devoné Kitchen deutete anfangs nichts auf eine kriminelle Karriere hin. Ihre Kindheit verbrachte sie in einer Siedlung der soliden Mittelschicht, sie besuchte eine Pfarrschule und träumte davon, Sportler zu vermarkten. Dann faszinierte sie der Kontrast zwischen ihrem behüteten Leben und jenem der "bad boys", wie Devoné Kitchen sie nennt. Hals über Kopf verliebte sie sich in einen der harten Jungs, die mit Drogen handelten und so cool, so männlich wirkten. Sie wollte ihm imponieren, in der Rolle der "Queen of the Gang".

"Man heilt eine Krankheit nicht, indem man die Kranken einsperrt. Du machst einen besseren Job, wenn du die Krankheit behandelst." Drogenrichter John Durkin
Foto: Frank Herrmann

Der Dealer, Vater ihrer neunjährigen Tochter und ihres siebenjährigen Sohnes, sitzt seit fünf Jahren hinter Gittern, weitere fünf hat er noch vor sich. Als Devoné lange nach seiner Verurteilung von einer Polizeistreife angehalten wurde, hatte sie größere Mengen Oxycontin im Auto, starke Schmerztabletten, die ihr kein Arzt verschrieben hatte. Um ihr die drohende Haft zu ersparen, schickte sie ihr Anwalt zu Richter Durkin. Anfangs sträubte sie sich, da sie sich von nichts und niemandem gängeln lassen wollte, auch nicht vom strengen Regime eines Drug Court: "Ich war meine eigene Chefin, ich hasste Autoritäten." Es dauerte, bis die heute 27-jährige Afroamerikanerin zu einem Paradebeispiel wurde, das Durkin gern anführt, um den Erfolg seines Ansatzes zu beschreiben.

Es ist ein Ansatz, der gleichwohl nicht viel ändert am traurigen Gesamtbild. Im vergangenen Jahr starben etwa 72.000 Amerikaner an einer Überdosis Rauschmittel, 200 pro Tag, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Damit war die Zahl der Drogentoten höher als jene der in Vietnam gefallenen US-Soldaten. Ein Großteil der Todesfälle, fast 49.000, ging auf Opioide zurück. Am schlimmsten wütet die Epidemie im Rostgürtel und in den Appalachen – dort also, wo alte Industriebetriebe abwanderten und hunderttausende Jobs verschwunden sind.

In der heruntergekommenen Stahlstadt Youngstown etwa machte sich Verzweiflung breit, die wiederum den Drogenkonsum anschwellen ließ. Das führte dazu, dass Unternehmen heute nicht genügend Bewerber finden, die einen Drogentest bestehen. Weshalb sie in manchen Gegenden kaum investieren, sodass vom aktuellen Wirtschaftsboom dort nicht viel zu spüren ist. Ohio weist nach West Virginia die zweithöchste Rate an Rauschgifttoten auf. "Und als wir dachten, allmählich kriegen wir das Problem in den Griff, bekamen wir es mit Fentanyl zu tun", skizziert Richter Durkin nüchtern die Realität.

Fentanyl, meist in China hergestellt, ist für viele zur bevorzugten Droge geworden. Bisher wurde es von Dealern vor allem verwendet, um Heroin zu strecken. Inzwischen rauchen, schnupfen oder spritzen die Abhängigen den Stoff auch direkt – mit verheerenden Folgen. Dass die Süchtigen immer jünger werden, beschäftigt Durkin ebenfalls. Als er angefangen hatte, lag das Durchschnittsalter seiner Kursteilnehmer bei 35 Jahren. Heute liegt es bei 23.

Immerhin, 52 Prozent derer, die bei Durkin angefangen haben, schaffen es bis zu einem Abschlusszeugnis. Rückfällig werden nur neun Prozent, ein vergleichsweise niedriger Wert. Im statistischen Durchschnitt sind es zwei Drittel aller in einem Drogenverfahren Verurteilten, die innerhalb der ersten drei Jahre nach ihrer Entlassung wieder Rauschgift nehmen.

Guter Wille und Damoklesschwert

Allerdings, erklärt Amy Klumpp, die Seele des Programms, könne es nur funktionieren, weil sich guter Wille mit dem Damoklesschwert der Sanktionen verbinde. Nicht nur, dass die Beteiligten regelmäßig vor Durkin zu erscheinen haben. Morgens müssen sie ihre Betreuer anrufen, um zu erfahren, ob sie an dem Tag eine Urinprobe abgeben sollen. Zufallsprinzip. Wessen Laborbefund auf Drogenkonsum schließen lässt, der muss ins Gefängnis – anfangs nur kurz, im Wiederholungsfall länger. "Würde nicht dieser Hammer über ihrem Kopf hängen", sagt Amy Klumpp, "die meisten würden es nicht schaffen." (Frank Herrmann aus Youngstown, 6.1.2019)